Das Kunstmuseum Bern widmet dem Maler Chaïm Soutine (1893– 1943) ab 16. August unter dem Titel "Chaïm Soutine. Gegen den Strom" eine grosse Retrospektive. Seine expressiven und farbgewaltigen Gemälde zielen auf die existenzielle Dimension des Daseins und sind zugleich pures malerisches Experiment.
Chaïm Soutine ist einer der grossen Maler der Moderne. Seine Werke zeigen wankende Landschaften, geschlachtete Tiere und Menschen der unteren Gesellschaftsschichten; seine Modelle waren Pagen, Zimmermädchen, Köche und Messdiener. Die farbgewaltigen Gemälde zielen auf die existenzielle, verletzliche Dimension des Daseins und sind eindrückliche Zeugnisse einer wechselhaften Existenz am Rande der Gesellschaft.
Die Ausstellung umfasst rund 60 Werke aus allen Schaffensphasen. Darunter sechs Werke aus der Sammlung des Hauses (alle aus dem Legat Georges F. Keller) sowie internationale Leihgaben unter anderem des Musée d’Orsay et de l’Orangerie und des Centre Pompidou in Paris, der Tate, London, des Museum of Modern Art in New York und der National Gallery of Art in Washington. Sie präsentiert Werke aus den für Soutine charakteristischen Gattungen Porträt, Landschaft und Stillleben und setzt einen Schwerpunkt auf die ersten Schaffensjahrzehnte.
Soutines Gemälde sind ungestüme Farbexplosionen und bilden gleichzeitig eine enorme Verletzlichkeit ab. Es sind Liebeserklärungen an das Leben und an die Menschen auf der untersten Stufe der Gesellschaft – eine Erfahrung, die Soutine durch seine eigene Biografie teilen konnte. Seine einfühlsamen und ungeschönten Porträts von einfachen Leuten, die energiegeladenen, farbenfrohen Landschaften und die rätselhaften Stillleben von geschlachteten Tieren spiegeln eine ganze Epoche und eine Generation, die durch Krieg, soziale Missstände und den unerbittlichen Widerstreit religiöser und politischer Weltanschauungen gezeichnet war.
Chaïm Soutine wuchs in einer jüdisch-orthodoxen Familie in einer kleinen Stadt in der Nähe von Minsk im heutigen Belarus auf. Als 20-Jähriger reiste er 1913 nach Paris, das zu seiner zweiten Heimat werden sollte. Trotzdem blieb er zeitlebens ein Aussenseiter, der die Sprache zunächst schlecht beherrschte und dem gesellschaftliche Umgangsformen fremd blieben. Die Erfahrung von Flucht und Migration, die Soutines Leben aufs Tiefste geprägt hat, schwingt in seinen Werken mit. Zu seinen wenigen engen Freunden zählte der italienische Künstler Amedeo Modigliani.
Während viele seiner Zeitgenossen sich mit Abstraktion beschäftigten, malte Soutine figurativ, äusserst lebendig und expressiv. Seine Malerei zeichnet sich durch eine unruhige, kraftvolle Linie aus, die seinen Gemälden eine unvergleichliche Ausdruckskraft verleiht.
Obwohl Soutine als einer der wichtigsten Künstler der Moderne gehandelt wird und in vielen wichtigen Museumssammlungen vertreten ist, ist seine Bekanntheit geringer als etwa die seines Freundes und Weggefährten Amedeo Modigliani oder diejenige Marc Chagalls. Sein Einfluss auf die Malerei nach 1945 zeigt sich vor allem unter den Vertreter:innen des abstrakten Expressionismus, der Künstlergruppe "CoBrA" sowie der School of London, die Soutine als inspirierendes Vorbild wählten. Willem de Kooning, Jackson Pollock und ganz besonders Francis Bacon sind seine bekanntesten Verehrer. Aber auch zeitgenössische Künstler:innen wie Dana Schutz, Leidy Churchman, Amy Sillman, Emma Talbot, Thomas Hirschhorn, Chantal Joffe oder Imran Qureshi nennen Soutine als Schlüsselfigur ihrer künstlerischen Biografie.
Eine besondere Aktualität hat Soutine 2020–21 als Symbolfigur bei den – später durch Repression niedergeschlagenen – demokratischen Protesten in Belarus erlangt.
Chaïm Soutine. Gegen den Strom
16. August bis 1. Dezember 2024