Locarno 2015: Solider Jahrgang

Leichter konsumierbar als in den letzten Jahren waren die Wettbewerbsfilme heuer, überragende Meisterwerke fehlten zwar, aber andererseits gab es auch kaum Tiefschläge. Solide präsentierte sich auch das Piazza-Programm. Einziger Wermutstropfen ist, dass auch hier echte Glanzlichter fehlten.

Einen steilen Kurs fuhr der künstlerische Leiter Carlo Chatrian in den letzten Jahren im Wettbewerb, mutete dem Publikum Einiges zu und gönnte ihm nur wenig leicht zugängliche narrative Filme. Solche schwere Kost war heuer die Ausnahme. So richtig durchquälen musste man sich wohl nur bei Chantal Akermans "No Home Movie".

Schon die den Film eröffnende fünfminütige Einstellung eines vom Wind gepeitschten Baums in einer Wüstenlandschaft stimmte auf zwei harte Stunden ein. Lange statische Einstellungen vom Alltag der inzwischen verstorbenen Mutter der Regisseurin in ihrer Brüsseler Wohnung folgen, unterbrochen nur von Blicken in den Garten oder auf die Straßenkreuzung vor der Wohnung oder aber von langen Autofahrten durch eine Wüstengegend.

Den Konventionen des Home Movies widersetzt sich Akerman konsequent, zeigt das Banale, das fade Herumsitzen. Nur einmal erzählt die Mutter kurz über ihr Leben während der NS-Zeit, ansonsten wird weitgehend geschwiegen oder man verabschiedet sich zehn Minuten lang voneinander.

Wie Akerman ihrer Mutter nicht näher zu kommen scheint, sie meist durch Türrahmen im Hintergrund des Bildes sitzend filmt, so kommt ihr auch der Zuschauer nicht näher. – Eine Provokation ist dieser Film in seiner Verweigerung etwas zu erzählen und über die Protagonistin mehr preiszugeben und führt so beim Zuschauer zu zunehmender Frustration und Wut.

Leichter konsumierbar war das zweite filmische Experiment, das Carlo Chatrian mit Ben Rivers "The Sky Trembles and the Earth Is Afraid and the Two Eyes Are Not Brothers" im Wettbewerb programmierte. Im Detail erschließen lässt sich diese Auseinandersetzung mit Paul Bowles Kurzgeschichte "A Distant Episode" wohl ohne Kenntnis der Vorlage nicht, aber immer wieder faszinierend ist dieser Film mit seinen ausgebleichten 16mm-Aufnahmen des Atlas-Gebirges und der Sahara und einer fragmentierten und auf Dialog weitgehend verzichtenden Erzählweise dennoch.

Kulturelle Differenz und Abhängigkeiten werden hier thematisiert, wenn im ersten Teil ein europäischer Regisseur, der in Nordafrika Bowles Kurzgeschichte verfilmen will, die einheimischen Schauspieler wie Marionetten benützt, im zweiten Teil aber entführt wird und von den Nordafrikanern selbst zur Marionette gemacht wird, ein Kleid aus Konservendeckeln anziehen und auf Befehl tanzen muss. – Das mag kein rundum gelungener Film sein, aber gewiss ein interessantes Experiment.

Mit "Schneider vs. Bax" und "Heimatland" fehlte auch das Genrekino oder zumindest mit dem Genrekino spielende Filme nicht im Wettbewerb und breiten Raum nahmen Autorenfilme ein, die zwar durchaus nach einer eigenen filmischen Sprache suchten, aber mit ihrem narrativen Ansatz doch zugänglich blieben. Beeindruckendstes Beispiel dafür war neben Avishai Sivans "Tikkun" Hamaguchi Ryusukes "Happy Hour".

Ironisch ist der Titel dieses Films zu lesen, in dem ausgehend von der Freundschaft zwischen vier etwa 35-jährigen Frauen und ihren Eheproblemen ein Blick auf die japanische Gesellschaft geworfen wird, die Herrschaft der Männer, die Erstarrung in Ritualen und die Unfähigkeit zu Nähe und Körperlichkeit aufgedeckt wird.

Ständig bedanken sich hier die Figuren und entschuldigen sich, sind aber im Grunde unfähig sich zu öffnen. Nicht zufällig steht folglich ziemlich am Beginn ein Workshop, in dem es um Balance zwischen Körper und Geist und um Körperkontakt geht. Quasi in Echtzeit inszeniert Hamaguchi nicht nur diese Szene, sondern später auch eine Lesung und die anschließende Diskussion, sodass es nicht verwundern kann, dass "Happy Hour" 317 Minuten lang wurde.

Überlang ist dieses unaufgeregte und unspektakuläre Drama damit und manche Kürzung wäre wohl möglich, andererseits ermöglicht es aber auch erst die Länge und der geduldige Blick die von einem herausragenden Ensemble gespielten Charaktere richtig zum Schillern zu bringen.

Wie im Wettbewerb heuer die Enttäuschungen erfreulicherweise Mangelware blieben, so beschränkten sich diese auch beim Piazzaprogramm auf Barbet Schroeders unglaublich konstruiertes und steriles NS- und deutsche Wiedervereinigungsdrama "Amnesia". Davon abgesehen vermochte die bunte Mischung von der Geschichtslektion "Der Staat gegen Fritz Bauer" bis zur US-Komödie "Trainwreck – Dating Queen", von der rund erzählten und großartig gespielten Alter- und Alzheimer-Tragikomödie "Floride" bis zum indischen Gangsterfilm "Bombay Velvet" und vom frechen und unzimperlichen Coming-Of-Age-Film "Me and Earl and the Dying Girl" bis zur kanadischen Politsatire "Guibord s´en va-t-en-guerre" durchaus zu gefallen.

Was fehlte waren einzig – wie auch im Wettbewerb – ein paar echte "Hammerfilme", überragende Produktionen, die einen noch Tage und Wochen begleiten und nicht schon bald wieder vergessen sind. Denn solche konnte man nur in den Filmprogrammen zu den diversen Preisträgern von Michael Ciminos "The Deer Hunter" und "Heaven´s Gate" über Spike Lees "25th Hour" bis zu Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now" und natürlich in der Retrospektive für Sam Peckinpah entdecken oder erneut bestaunen. Plastisch vor Augen geführt wurde einem in letzterer freilich auch – zum Beispiel beim Kriegsfilm "Steiner – Das eiserne Kreuz" -, dass auch ein Meisterregisseur keineswegs nur Meisterhaftes dreht.