Locarno 2015: Zerfallende Ordnungen

Während Altmeister Otar Iosseliani mit "Chant d´hiver" zwar einen teils sehr witzigen impressionistischen Episodenbogen vorlegte, seinem Werk im Grunde aber nichts Neues hinzufügte, katapultierte sich "Tikkun" des Israeli Avishai Sivan auf Anhieb in die Position des großen Leoparden-Favoriten. "Heimatland", ein Gemeinschaftswerk von zehn Schweizer Regisseuren, das Muster des US-Katastrophenfilms mit Sozialkritik mixt, konnte dagegen nur teilweise überzeugen.

Mit einer Hinrichtung während der Französischen Revolution beginnt Otar Iosselianis "Chant d´hiver", um darauf eine Kriegsszene folgen zu lassen, in der mit Maschinenpistolen und Panzern geschossen, die Zivilbevölkerung ausgeraubt und vergewaltigt wird. Wie der in Paris lebende Georgier ganz ohne Worte zu erzählen versteht, beeindruckt durchaus, doch dass er nicht nur in der Jahrhunderte zurückliegenden Hinrichtungsszene, sondern auch in der in der Gegenwart oder unmittelbaren Vergangenheit spielenden Kriegsszene meint, Witz entwickeln zu müssen, irritiert schon etwas.

Vom Kriegsgeschehen wechselt der Film aber sogleich ins Paris von heute, um in der für Iosseliani typischen Manier nur ganz lose verbundene Episoden aneinanderzureihen. Da arbeiten junge Menschen auf Rollerblades raffiniert als Taschendiebe, wirbt ein junger Clochard um eine Violinistin, während ein anderer wiederum auf dem Land aus Ruinen ein Haus aufbaut. Ein älterer Herr tauscht antiquarische Bücher gegen Waffen und sein Freund verfügt über eine Sammlung von Schädeln und modelliert Köpfe, darunter auch den des am Beginn während der Französischen Revolution Hingerichteten.

Locker reiht Iosseliani Episoden aneinander, kehrt bald wieder zu Figuren und Szenen zurück, stellt Querverbindungen her, zeigt durchaus Sympathie für die Außenseiter wie die Diebe und Clochards, während ein glatzköpfiger Polizeichef sein Fett abbekommt und im Kanal landet, aus dem er dann wieder förmlich ausgespuckt wird.

So charmant und poetisch die Szenen aber auch im Einzelnen sind - unvergesslich wie ein Mann von einer Dampfwalze so platt gewalzt wird, dass er dann unter der Tür durch in seine Wohnung geschoben werden kann -, so sehr verliert sich dieser Reigen doch auch im Beliebigen, fügt sich – zumindest nach dem ersten Sehen – nicht zu einem überzeugenden Ganzen und leidet zudem daran, dass man das Ganze von Iosseliani schon mehrfach sehr ähnlich, vor allem vor 30 Jahren in "Les favoris de la lune" gesehen hat.

Solche Déjà vus stellen sich bei "Tikkun" des Israeli Avishai Sivan nicht ein. Vom ersten Bild an, in dem zwei Männer eine Kuh koscher schlachten, nimmt dieses in strengem Schwarzweiß gehaltene Drama gefangen. Im Mittelpunkt steht eine ultra-orthodoxe jüdische Familie. Völlig verinnerlicht hat der etwa 18-jährige Sohn die religiösen Regeln schon, badet nicht zu Hause, sondern nur in der Mikve, fastet verbissen, bis er eines Tages zusammenbricht.

Die zu Hilfe gerufenen Sanitäter erklären ihn schon für tot, doch der Vater setzt die Reanimierung fort und der junge Mann erwacht wieder. Gab es für ihn aber bislang nur den Geist, so löst er sich nun langsam von der Religion, trinkt Kaffee und versucht eine Zigarette und entdeckt zunehmend Interesse am Körperlichen. Doch zu sehr sind die religiösen Vorschriften schon in ihm verwurzelt, als dass er sich wirklich davon befreien könnte, wird vielmehr zerrissen, während der Vater sich durch die quasi Wiedererweckung des Sohnes vor Gott schuldig gemacht hat.

Große Dichte entwickelt "Tikkun", der auch mit Parallelen zur Abraham-Isaak-Geschichte arbeitet, durch die ungemein konzentrierte und geschlossene Inszenierung. Die Kamera wird kaum bewegt, auf Filmmusik wird verzichtet, stringent wird die Geschichte, die den Zuschauer in eine fremde Welt von Ritualen und Regeln, aber auch irritierenden Bildern entführt, bei denen für Nicht-Eingeweihte wohl auch vieles im Dunkeln bleibt, weiter getrieben. – Bislang eindeutig der Höhepunkt im Wettbewerb und hoher Favorit auf den Goldenen Leoparden.

Nur teilweise zu überzeugen vermochte dagegen der einzige Schweizer Wettbewerbsbeitrag "Heimatland". Wie das Kollektiv aus zehn jungen Regisseuren zunächst die Ausbreitung einer geheimnisvollen Wolke über der Schweiz und die daraus resultierende Verunsicherung bei der Bevölkerung schildert, hat durchaus seinen Reiz, auch wenn dabei mit den Mitteln gearbeitet wird, die man aus US-Katastrophenfilmen von M. Night Shyamalan oder Roland Emmerich hinlänglich kennt. Auch der australische Endzeitthriller "These Final Hours" ist nicht weit, wenn Prediger vom Strafgericht Gottes reden, während andere noch einmal richtig Party machen wollen.

Wie beispielsweise Emmerich in "The Day After Tomorrow" sein Netz an Geschichten um die ganze Welt spannt, so spannt es das Kollektiv über die Schweiz von der Krisensitzung einer Versicherung über jugendliche Fußballfans, eine seit dem Tod eines Asylanten traumatisierte Polizistin, einen Taxifahrer und seine Familie bis zum rechtsradikalen Redner, der seine Anhänger auffordert die Waffen zu ergreifen, um das Hab und Gut gegen plündernde Migranten zu verteidigen.

Zu viele Figuren und Geschichten werden hier allerdings aufgefahren, als dass etwas wirklich weiter entwickelt werden könnte, mehrere Figuren verschwinden dann auch einfach wieder aus dem Film. Dank eindrücklicher Bildgestaltung und Sounddesign, gekonnter Verknüpfung der Geschichten funktioniert "Heimatland" aber zumindest in der ersten Hälfte als Genrekino, wird aber ziemlich ärgerlich, wenn mit dem Holzhammer äußerst platt Gesellschaftskritik geübt wird. Letztlich geklaut wirkt auch das Finale, denn die realen Flüchtlingsströme mit ironischem Seitenhieb umgedreht hat Emmerich schon in "The Day After Tomorrow", wenn dort die US-Amerikaner nach Mexiko fliehen.