Locarno 2015: Widerstand gegen repressive Gesellschaften

Das Individuum im Kampf gegen repressive Gesellschaften – ein Thema, das beim 68. Filmfestival von Locarno sowohl im Zentrum von Lars Kraumes "Der Staat gegen Fritz Bauer" und Catherine Corsinis "La belle saison", die auf der Piazza Grande gezeigt wurden, als auch des iranischen Wettbewerbsbeitrags "Paradise" steht.

Mit schwarzweißen Archivaufnahmen von Fritz Bauer, in denen der hessische Generalstaatsanwalt betont, dass die jungen Deutschen ein Recht haben die Wahrheit über den Nationalsozialismus und seine Täter zu erfahren, beginnt Lars Kraumes "Der Staat gegen Fritz Bauer", ehe die konkrete, inszenierte Handlung dramatisch mit einem beinahe tödlich endenden Unfall Bauers in der Badewanne einsetzt.

Im Deutschland der späten 1950er Jahre will die Bevölkerung der BRD von der Nazizeit nichts wissen, interessiert sich allein für den wirtschaftlichen Aufschwung. Bauer, der mit mehreren jungen Staatsanwälten Nachforschungen über Nazi-Größen, speziell über Mengele, Bormann und Eichmann anstellt, legt man einerseits von Seiten der Behörden, wo man nur kann, Prügel in den Weg, andererseits droht ihm die Öffentlichkeit mit anonymen Briefen.

Die Grenzen zwischen Gut und Böse sind klar gezogen, Zwischentöne findet man in Lars Kraumes Film kaum, aber sorgfältig aufgebaut und detailreich in der Rekonstruktion der Zeit zeichnet er Bauers Bemühungen um die Verhaftung Eichmanns nach, deutet die danach folgenden Auschwitz-Prozesse nur noch im Nachspann an.

Unterstützung erhält Bauer, den der gewohnt souveräne Burghart Klaußner auch mit einer kräftigen Portion trockenen Humors spielt, allein vom jungen Staatsanwalt Angermann (Ronald Zehrfeld), mit dem Bauer auch die Homosexualität verbindet, die beide nur im Geheimen leben können. So zeichnet Kraume nicht nur präzis ein Nachkriegsdeutschland, in dem Nazi-Größen immer noch oder schon wieder an allen Schalthebeln von Wirtschaft und Politik sitzen und ihre Freunde von einst decken, sondern auch eine restaurative Gesellschaft, in der gleichgeschlechtliche Liebe noch als abartig betrachtet und rigoros bestraft wird.

Mehr Freiheiten gab es damals nur beim Rauchen, denn so viel wie hier wurde wohl schon lange nicht mehr in einem Film nicht nur im privaten Raum, sondern auch in Amtsstuben gequalmt. – Durchlüften lässt Bauer aber nicht deshalb mehrmals Räumlichkeiten, sondern schon viel mehr wegen der beklemmenden Verdrängung und Vertuschung, die hier gepflegt wird. Ein gesellschaftlicher Aufbruch wird aber erst zehn Jahre später folgen.

Auf den Beginn der Frauenbewegung Anfang der 1970er Jahre blickt Catherine Corsini in "La belle saison". Nach dem Ende einer schüchternen lesbischen Beziehung flieht die junge Bauerstochter Delphine vom Hof ihrer Eltern in die Großstadt Paris, wird dort mit dem gesellschaftlichen Aufbruch, mit politischen Diskussionen und Protesten gegen das Abtreibungsverbot konfrontiert und verliebt sich leidenschaftlich in die Lehrerin Carole.

Als Delphine nach einem Schlaganfall auf den elterlichen Hof zurückkehrt, verlässt Carole ihren Partner und folgt bald der Geliebten, doch auf dem konservativen Land können sie ihre Liebe nur im Geheimen leben.

Mit schnellen Schnitten, leuchtenden Farben und lichtdurchfluteten Bildern beschwört Corsini die Aufbruchsstimmung, stellt plastisch, aber auch etwas schematisch nicht nur Stadt und das Land, auf dem die Männerherrschaft noch ungebrochen ist, sondern auch Carole, die sich bald wieder nach dem städtischen Leben sehnt, und Delphine, die Bäuerin mit Leib und Seele ist, einander gegenüber. Zusammen können sie so kaum glücklich werden, doch ein ein fünf Jahre später angesiedelter, kurzer Epilog gönnt beiden in diesem nostalgischen Blick auf eine Zeit des großen Aufbruchs und der politischen Aktivität einen erfolgreichen Neustart.

Einblick in die Unterdrückung der Frau im Iran der Gegenwart bietet dagegen Sina Ataelan Denas erster Langfilm "Paradise", der ohne offizielle Erlaubnis der Regierung, aber mit starker deutscher Unterstützung entstand. Im Mittelpunkt steht die junge Grundschullehrerin Hanieh, die um eine Versetzung von ihrer jetzigen Schule ansucht, dabei aber auf eine äußerst schwerfällige Bürokratie stößt.

Lustlos verrichtet sie ihren Job in einer Mädchenschule, in der die Direktorin jeden Morgen den stramm aufgestellten Schülerinnen Regeln zur Kleidung, zum Verbot von Lackieren der Fingernägel oder Wegwerfen von Speisen eintrichtert. Nicht von Männern, sondern von Frauen selbst wird hier die patriarchale Gesellschaftsordnung vertreten und zementiert.

Eindrücklich zeigt Dena am Beispiel der jungen Lehrerin, wie diese Unterdrückung jede Lebensfreude abtötet und Hanieh nur noch versucht sich, ohne sich mit den Behörden anzulegen, irgendwie durchzuschlängen, im Verborgenen gewissen Freiraum zu gewinnen. – Ein Favorit auf einen Leoparden ist das noch kaum, aber doch ein Film, der im Wettbewerb durch seine starke Hauptdarstellerin und das klare gesellschaftskritische Engagement bislang den stärksten Akzent setzte.