Locarno 2012 - Eine Bilanz

Ansprechend, aber nicht glanzvoll präsentierte sich das Piazza-Programm, ungemein vielseitig, wenn auch nicht immer überzeugend waren die Wettbewerbsbeiträge. Mehr als diese Filme standen beim 65. Filmfestival von Locarno aber oft die zahlreichen Stars im Mittelpunkt des (Medien)Interesses.

Immer wieder wurde in den letzten Jahren geklagt, dass zu wenige Stars nach Locarno kämen, dadurch Glamour, aber auch Medieninteresse fehlten. Heuer konnte davon keinesfalls die Rede sein, denn mit schier zahllosen Ehrenpreisen lockte der künstlerische Leiter Olivier Père große Stars wie Charlotte Rampling, Alain Delon, Harry Belafonte, Leos Carax, Kylie Minogue, Ornella Muti oder Gael Garcia Bernal an den Lago Maggiore. Sie dominierten die Schlagzeilen, die neuen Filme traten dahinter teilweise in den Schatten.

Das liegt aber vielleicht auch daran, dass echte Glanzlichter auf der Piazza Grande fehlten. Abwechslungsreich war das Kernstück von Locarno programmiert, spannte den Bogen vom berührenden Drama "Quelques heures de printemps" bis zur Schweizer Horrorfilmparodie "Das Missenmassaker", vom chilenischen Politdrama "No!" bis zur amerikanischen Komödie "Ruby Sparks". Die ganz großen Filme, die das Publikum auf der 8000 Zuschauer fassenden Freilichtarena vollends begeistern könnten, fand man darunter aber wohl nicht.

Atemberaubende Vielfalt war auch die große Stärke des Wettbewerbs, in dem auffallend viele Filme mit dokumentarischen Elementen arbeiteten und die Wirklichkeit in die Fiktion eindringen ließen. Dies gilt für Tizza Covis und Rainer Frimmels "Der Glanz des Tages" ebenso wie für Jem Cohens "Museum Hours". Peter Mettlers bildmächtiger Essayfilm "The End of Time" stand hier neben ungewöhnlichen, aber klassisch erzählten Beziehungsgeschichten wie "Une estonienne à Paris" oder "Starlet", ein mit viel Selbstironie inszenierter Dokumentarfilm über das Image der Schweiz und Möglichkeiten zu dessen Verbesserung ("Image Problem") neben "Berberian Sound Studio", mit dem Peter Strickland mit viel Liebe dem italienischen Horrorfilm der 1970er Jahre seine Reverenz erwies.

Schwer verdauliche Beiträge fehlten unter den 19 Wettbewerbsfilmen freilich nicht. So mischt der Japaner Sho Miyake in seinem Debüt "Playback" Traum, Erinnerung und Wirklichkeit so durcheinander, dass für den Zuschauer unentscheidbar bleibt, in welcher Ebene er sich jeweils befindet. Resignation löst auch der guatemaltekische "Polvo" aus, in dem Julio Hernández Cordón die Erzählung aufs Äußerste fragmentiert, zwar erahnen lässt, dass es um die Gräuel des Bürgerkriegs geht, doch es dem Zuschauer in der Reduktion nahezu unmöglich macht die Einzelteile zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.

Erholen konnte man sich von solchen Wettbewerbsfilmen wie alle Jahre in Locarno bei der Retrospektive, die heuer Otto Preminger gewidmet war. Ungetrübten Kinogenuss boten Meisterwerke wie "The Man with the Golden Arm". Immer noch konnte man darüber staunen, wie hier einer in grandios komponierten Plansequenzen inszeniert und Musik mit der Dramaturgie verbindet, dass ein erzählerischer Fluss entsteht, der den Zuschauer für zwei Stunden im Film versinken lässt.

Entdeckungen machen konnte man aber auch bei den Dokumentarfilmen der "Semaine de la critique". Früh anstehen musste man sich dabei oft vor dem Kursaal, denn wie für die Vorstellungen der Preminger-Filme waren auch dafür die Tickets sehr begehrt. Auf größtes Interesse stieß "Vergiss mein nicht", in dem David Sieveking einfühlsam von der Alzheimer-Erkrankung seiner Mutter erzählt. Schwer zu beeindrucken verstand aber auch "Camp 14 – Total Control Zone", in dem Marc Wiese einen jungen Koreaner, ergänzt durch Animationsszenen, beklemmend von seinem Leben in einem nordkoreanischen Arbeitslager erzählen lässt, in dem er von seiner Geburt 1983 bis zu seiner Flucht 2005 lebte, oder Bin Chuen Chois sehr persönliche Schilderung der Suche nach seiner Mutter, die ihn als Kleinkind verlassen hat ("Mother´s Day").

So war Locarno 2012 ein interessantes und anspruchsvolles Festival, das wieder einmal vom Mix aus Piazza, Wettbewerb, Retrospektive und Semaine de la critique lebte. Zurückfahren könnte man freilich etwas die Zahl der Hommagen, glanzvollere Piazza-Filme würde man auch nicht verachten, aber nicht übersehen werden darf dabei, dass ein Festival auch nur die Filme zeigen kann, die zu bekommen sind.