Locarno 2012: Kunst und Leben

Dokumentarisches und Inszeniertes, Kunst und Leben treffen nicht nur in Tizza Covis und Rainer Frimmels "Der Glanz des Tages", sondern auch in Jem Cohens "Museum Hours" aufeinander. – Zwei Höhepunkte im Wettbewerb des 65. Filmfestivals von Locarno.

Philipp Hochmair ist ein in Hamburg und am Wiener Burgtheater gefeierter und viel beschäftigter Schauspieler. Er ist ebenso eine reale Person wie der Zirkusartist und Bärendompteur Walter Saabel, der schon in "La Pivellina", dem letzten Film von Tizza Covi und Rainer Frimmel eine Hauptrolle spielte. Saabel besucht am Beginn von "Der Glanz des Tages" Hochmair in Hamburg und stellt sich als sein Onkel Walter vor. Hochmair nimmt den älteren Mann für einige Tage auf, später wird Saabel ihn in Wien besuchen.

Real sind die Figuren, real die Proben und Bühnenauftritte Hochmairs. Unentscheidbar ist, wo hier die Fiktion beginnt, so lebensnah ist die Inszenierung. Keine dramatische Geschichte entwickeln Covi/Frimmel, sondern lassen ihren Film sich von der Begegnung ausgehend anscheinend selbst entwickeln, schauen zu, was Hochmair und Saabel machen, wem sie begegnen und was sich daraus ergibt.

Dem klassischen Storytelling ist das diametral entgegengesetzt, entwickelt aber im genauen Blick für die Personen und ihr Umfeld – auch wenn die Begegnung von Hochmair und Saabel sowie alles Folgende reine Inszenierung ist - eine Wahrhaftigkeit und Echtheit, die packen und ihresgleichen suchen. Ganz langsam dringt "Der Glanz des Tages" dabei immer tiefer, stellt immer plastischer der Theaterwelt, in der sich Hochmair zu verlieren droht, die Realität gegenüber, die Saabel geprägt hat. Behutsam kommt Stück für Stück seine schwere Lebensgeschichte zu Tage, seine angeblichen Kämpfe mit einem Bären sind dabei auch Metapher für seinen Lebenskampf. Wenn Hochmair einen Bühnentext zu lernen scheint, in Wahrheit aber aus den Lebensaufzeichnungen Saabels - seien diese nun real oder fèr den Film erfunden - rezitiert, gehen (Film)Realität und Theaterebene in bewegender Weise ineinander über.

Aus dem Besuch in Wien ergibt sich der Kontakt zu Hochmairs moldavischem Nachbarn, dessen Frau nicht nach Österreich einreisen darf. Saabel kümmert sich um die beiden Kinder des Handwerkers, schließt sie in sein Herz und beschließt, geprägt von eigenen Kindheitserfahrungen, die untragbare Situation, in der sie aufwachsen, zu ändern.

Hier wird nichts thematisiert und groß aufgebauscht, auf Filmmusik verzichten Covi/Frimmel konsequent. Ganz aus der Beobachtung der Menschen heraus entwickelt sich die Handlung, treten die unterschiedlichen Lebenskonzepte und -welten von Hochmair und Saabel, aber auch die Differenz zwischen abgehobener Theaterwelt und realen sozialen Problemen, von Schein und Sein zu Tage. Lernen kann man bei "Der Glanz des Tages", welchen Reichtum ein Film aus seiner Einfachheit entwickeln kann.

Dokumentarisch muten auch die sachlichen Ausführungen des Museumswärters Johann über das Kunsthistorische Museum, seine Arbeit und die Kunstwerke oder eine lange Führung durch den Brueghel-Saal an. Jem Cohen kombiniert in "Museum Hours" aber diese Ebene mit ungewöhnlichen, in 16-mm gefilmten Stadtansichten von Wien sowie als erzählerischem Scharnier mit der Geschichte der Kanadierin Anne, die nach Wien kommt um ihre im Koma im Krankenhaus liegende Cousine zu besuchen.

Im Museum trifft Anne den Museumswärter, der ihr beim Kontakt mit dem Krankenhaus hilft, sie bei Besuchen begleitet, ihr aber auch über sein Leben - auch hier spielt das reale Leben des Schauspielers Bobby Sommer hinein - und seine Arbeit erzählt und mit ihr Ausflüge macht.

Nur angedeutet ist diese Geschichte, bleibt fragmentarisch. Im Zusammenspiel der menschlichen Geschichte mit den Reflexionen über Kunst und den Stadtansichten entwickelt sich "Museum Hours" aber zur sehr fein gewobenen Reflexion über Kunst und Leben, lässt die Kunst immer wieder direkt ins Leben übergehen, fragt nach Beständigkeit und Vergänglichkeit und unserer Wahrnehmung von Kunstwerken, aber auch des Alltags. – Ein ebenso leiser wie leichter Film, ein Grenzgang zwischen Erzählung und Essay, der sich wohltuend abseits ausgetretener Bahnen bewegt.