Locarno 2012: Ideale Piazza-Filme

Nach dem enttäuschenden Eröffnungsfilm "The Sweeney" zog das Piazza-Programm beim 65. Filmfestival von Locarno mit Cate Shortlands ungewöhnlicher Coming-of-Age-Geschichte "Lore" und Jonathan Daytons & Valerie Faris romantischer Komödie "Ruby Sparks" deutlich an.

Der zweite Film der Australierin Cate Shortland spielt in Deutschland während des Kriegsendes. Nicht ein weiterer Film über den Nationalsozialismus, sondern schon eher eine weitere Coming-of-Age-Geschichte im Stile ihres Debüts "Somersault" ist Lore geworden. Wie in "Somersault" arbeitet die Australierin auch hier mit starken stimmungsvollen Bildern, stutzt den historischen Hintergrund zurück und benutzt diesen vor allem als Katalysator für ihre Geschichte.

Von ihren Nazi-Eltern ist die etwa 15-jährige Lore (Saskia Rosendahl) streng nach der Ideologie des Regimes erzogen worden. Völlig internalisiert hat sie diese Gedanken, immer noch glaubt sie an den Endsieg, doch der Krieg neigt sich dem Ende. Als ihre Eltern von den anrückenden Amerikanern verhaftet werden, kann sie mit ihren vier kleineren Geschwistern flüchten und versucht sich vom Schwarzwald zur Oma, die an der Nordseeküste lebt, durchzuschlagen. Unterstützung erhält die kleine Gruppe dabei bald von einem jungen Juden, dem Lore aber aufgrund ihrer Erziehung misstraut und den sie für Abschaum hält.

Mit der äußeren Reise, die kaum durch Trümmerlandschaften als vielmehr durch leuchtend grüne Wälder führt, lässt Shortland geschickt eine innere Wandlung Lores korrespondieren, denn auf den Verlust von Eltern und materiellem Besitz folgt langsam das Zerbröckeln des Weltbilds. Am Ende wird sie in Opposition zur Oma treten, die immer noch an den Gedanken des Nationalsozialismus festhält.

Getragen wird der atmosphärisch starke Film von großartigen Kinderdarstellern, aus denen Saskia Rosendahl in der Titelrolle herausragt. Für sie könnte dieser Film wie vor Jahren für Abbie Cornish ihre Hauptrolle in Shortlands "Somersault" der Start zu einer großen Karriere bedeuten.

Ein idealer Film für die Piazza Grande ist auch "Ruby Sparks" von Jonathan Dayton & Valerie Faris, die schon vor sechs Jahren mit "Little Miss Sunshine" in Locarno begeisterten. Ihr neuer Film ist eine romantische Komödie, um einen Schriftsteller (Paul Dano), der schon am Beginn seiner Karriere einen fulminanten Roman schrieb, nun aber an einer Schreibblockade leidet. Weder Bruder noch Psychiater scheinen ihm helfen zu können. Mit Hund Scotty fristet er ein einsam-zurückgezogenes Leben in seinem Designer-Haus, denn auch eine langjährige Beziehung ging vor einiger Zeit in die Brüche.

Doch dann findet er Inspiration im Traum von der rothaarigen Künstlerin Ruby Sparks (Zoe Kazan). Schier ungebremst tippt er nun wieder in seine alte Olympia-Schreibmaschine, steigert sich so in diese Figur hinein, dass sie plötzlich leibhaftig vor ihm steht. Hält er sich zunächst für verrückt und sieht in Ruby eine Parallelfigur zum legendären Hasen im James-Stewart-Film "Mein Freund Harvey", so wird er bald erkennen, dass diese Figur auch von anderen Menschen gesehen wird. Glücklich ist sein Leben, bis Ruby sich vom Autor emanzipieren will...

Mit Witz und Charme variieren Dayton/Faris nach einem Drehbuch ihrer weiblichen Hauptdarstellerin Zoe Kazan – der Enkelin von Elia Kazan – den Mythos von Pygmalion, und werfen nebenbei auch Fragen nach der Bedeutung der Freiheit für das Funktionieren einer Beziehung auf.

Mag auch die originelle Grundgedanke das größte Kapital von "Ruby Sparks" sein, so verstehen Dayton/Faris es doch einerseits aus diesem Moment viel Kapital zu schlagen, andererseits aber auch schwungvoll-unverkrampft zu erzählen und prägnant Figuren und Situationen zu zeichnen.

Elliot Gould in einer kleinen Rolle als Psychiater trägt so ebenso zum Gelingen dieser romantischen Komödie bei wie Annette Bening als ausgeflippte Mutter, die mit ihrem von Antonio Banderas gespielten Lebensgefährten in einem eigenwilligen Haus in Big Sur lebt. Trefflich besetzt und mit Lust gespielt sind freilich auch die beiden Protagonisten. Kazan konnte sich die Rolle der Ruby selbst auf den Leib schreiben, herrlich aber auch Paul Dano, der mit seiner Brille und seiner Schüchternheit etwas an den jungen Woody Allen erinnert.