Locarno 2012: Halbzeit bei der Leopardenjagd

Einen starken Eindruck haben im Wettbewerb des 65. Filmfestivals von Locarno bislang vor allem drei Filme hinterlassen: Bildmächtig und gedankenreich ist Peter Mettlers Essayfilm "The End of Time", atmosphärisch dichtes und ungewöhnliches Kino bietet Peter Stricklands "Berberian Sound Studio" und Craig Zobel versteht es mit "Compliance" 90 Minuten zu fesseln.

Weit holt Peter Mettler aus, wenn er im abschließenden Teil seiner mit "Picture of Light" (1996) begonnenen und mit "Gambling, Gods & LSD" (2002) fortgesetzten Trilogie der Frage nachspürt, was Zeit ist und wie sie wahrgenommen wird. Von vornherein ist klar, dass der zwischen Kanada und der Schweiz pendelnde Regisseur darauf keine endgültige Antwort geben will und kann. Vielmehr regt er mit seinem bildmächtigen Essayfilm zum Nachdenken an.

Vom Genfer Forschungszentrum Cern, in dem Teilchen beinahe mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander geschossen und dem Urknall nachgespürt wird, bis zu einem Vulkan auf Hawaii, von Techno-Parties in Detroit bis zu einem Begräbnis in Indien und von einer Sternwarte bis zu seiner Mutter spannt Mettler den Bogen. Abrupt sind teils die Übergänge und doch stellen sich Zusammenhänge ein, steht der Suche nach den kleinsten Teilchen der Blick in den unendlichen Kosmos gegenüber, der langsamen Ausbreitung der Lava auf Hawaii, die jede Zivilisation zu verschlingen scheint, die Natur, die sich entsiedelte Bezirke Detroits zurückerobert, die aber gleichzeitig wieder besiedelt werden, und dem Kosmischen das Menschliche.

Ein großer assoziativer Strom an Bildern und Gedanken ist das, in dem gleichzeitig auch filmisch durch den Einsatz von Zeitraffer und Zeitlupe, aber auch durch Grafiken mit der Zeit gespielt und ihr nachgespürt wird. So anregend dieser bildmächtige Essayfilm aber auch ist, so faszinierend in einzelnen Szenen, so entwickelt sich trotz des für Mettler typischen suggestiven Soundtracks doch kein durchgängiger Sog, der den Zuschauer völlig in diese Bilder- und Gedankenwelt hineinzieht.

Der komplette Gegensatz zu diesem großen, weltumspannenden Essay ist Craig Zobels "Compliance". Reduziert auf einen Tag und ein Fastfood-Restaurant – und durch diese Reduktion und Konzentration Dichte gewinnend – erzählt Zobel "inspired by true events" von einer überarbeiteten Leiterin einer Fastfood-Restaurants, die auf einen vermeintlichen Anruf eines Polizisten ihre Kassierin wegen eines angeblichen Diebstahls an einer Kundin in Gewahrsam nimmt.

Damit nicht genug, verlangt der Anrufer von der Geschäftsführerin immer mehr: Bald soll sie die Kassierin auf das gestohlene Geld durchsuchen, dann sogar sie entkleiden, da sie ja das Geld am Körper verstecken könne. Ohne großes Zögern führt die Frau die Befehle aus, zieht bald auch Mitarbeiterinnen und schließlich ihren Verlobten als Helfer bei.

An das legendäre Milgram-Experiment erinnert "Compliance", nur ist das eben kein Experiment, sondern soll sich laut Nachspann sogar in 70 ähnlichen Fällen in 30 US-Bundesstaaten ereignet haben. In seiner kompakten, dokumentarisch-nüchternen Inszenierung und dank starker Darsteller packt dieses Kammerspiel, wirft ein bedenkliches Licht auf Autoritätshörigkeit und stellt dem Zuschauer zugleich die Frage, wie er in einem solchen Fall reagieren würde.

In die sinistre Welt italienischer Billig-Horrorfilme der 1970er Jahre – so genannter Giallo – lässt dagegen der Brite Peter Strickland den schüchternen britischen Tontechniker Gilderoy und damit auch den Zuschauer in "Berberian Sound Studio" eintauchen. In England führt Gilderoy mit seiner Mutter ein beschauliches Leben auf dem Land und arbeitet vor allem für Natur- und Tierdokumentationen. Jetzt kommt er nach Italien im Glauben eine Pferdedoku zu vertonen, sieht sich aber plötzlich in die Produktion eines Horrorfilms involviert.

Wie der mit Toby Jones ideal besetzte Gilderoy wird auch der Zuschauer zunehmend von dieser fremden Welt ergriffen, die Atmosphäre der Horrorfilme greift auf die Filmatmosphäre über, Wirklichkeit und Traum fließen zunehmend ineinander. Bilder aus dem Horrorfilm benötigt Strickland dabei keine, sondern arbeitet allein mit dessen Tonkulisse und bietet dabei auch durchaus makabre Einblicke in deren Produktion, wenn mit Melonen, Radieschen oder Kohl alle möglichen schrecklichen Geräusche produziert werden. – Ein wie schon Stricklands Debüt "Katalin Varga" ungewöhnliches Werk, das einfallsreich und aufregend mit filmischen Mitteln arbeitet.