71. Locarno Festival: Goldener Leopard für "A Land Imagined"

Wie mehrfach in den letzten Jahren verlieh auch heuer die von Jia Zhang-ke geleitete Jury den Hauptpreis an einen asiatischen Film: den atmosphärisch dichten und visuell starken Mix aus Neo-Noir und sozialrealistischem Kino "A Land Imagined" des Singapurers Yeo Siew Hua. Der Preis sowohl der Fipresci, des Verbands der Filmkritiker, als auch der Ökumenischen Jury geht dagegen an Guillaume Giovanettis und Cagla Zencircis packendes Drama "Sibel".

Erfreulich viele der 15 im Wettbewerb gezeigten Filme waren preiswürdig, echte Enttäuschungen gab es kaum, aber auch nicht das herausragende Meisterwerk. Im Gegensatz zu manchem vergangenen Jahr zeichnete die Jury mit Yeo Siew Huas "A Land Imagined" nicht sprödes Kunstkino aus, sondern einen Film, der Genrekino mit gesellschaftskritischem Anspruch verband.

Leer ging dagegen der 14-stündige "La Flor" aus, dessen wild wuchernde Erzählungen immer wieder bewusst ins Leere laufen. Mehr dem Thema als der künstlerischen Gestaltung ist dagegen wohl der Spezialpreis der Jury für den Dokumentarfilm "M" geschuldet, in dem die Französin Yolande Zauberman den Kindesmissbrauch unter den ultraorthodoxen Juden im Jerusalemer Viertel Bnei Barak aufdeckt.

Überraschend kommt dagegen der Regiepreis für die Chilenin Dominga Sotomayor. Im schweifenden Blick auf das geradezu lethargische Leben in einer Kommune im ländlichen Chile von 1990 hinterließ ihr Drama "Tarde para morir joven" kaum nachhaltigen Eindruck, während der bewegende chinesische Film "A Family Tour" bei der Preisverleihung übergangen wurde. Immerhin eine lobende Erwähnung erhielt Richard Billingshams ebenso schonungsloser wie dichter Blick auf den Alltag seiner Eltern in "Ray & Liz".

Vertretbar ist die Auszeichnung KI Joobongs als bester Darsteller. In Hong Sangsoos "Gangbyun Hotel – Hotel by the River" spielt Joobong einen alternden Dichter, der in Vorahnung seines nahen Todes seine beiden ihm entfremdeten Söhne in das Hotel, in dem er lebt, zum Gespräch einlädt. Parallel zu ihm erhält in diesem Hotel auch eine junge Frau, die unter einer gescheiterten Beziehung leidet, Besuch von ihrer Freundin.

Wie gewohnt bei diesem südkoreanischen Regisseur, der im Grunde immer wieder den gleichen Film dreht, passiert fast nichts. Der Fokus liegt ganz auf den Figuren, ihren Gesten und ihren Gesprächen, in denen vielfach mehr verschwiegen als gesagt wird. Beeindruckend evozieren die sorgfältig kadrierten schwarzweißen Winterbilder und die unaufgeregte Erzählweise dabei zwar eine Atmosphäre der sanften Melancholie, doch in der Ereignislosigkeit und der Zeit, die sich Hong für die Gespräche lässt, erfordert dieser Film, den man wie alle Filme Hongs auch als geschwätzig bezeichnen kann, auch viel Geduld.

Schwer nachvollziehbar ist der Preis für die beste Darstellerin für die junge Rumänin Andra Guți in Radu Munteans "Andrea T.", gab es doch gerade in dieser Kategorie mit Mary Kay Place in Kent Jones´ "Diane" und Damla Sönmez in Guillaume Giovanettis und Cagla Zencircis "Sibel" zwei schauspielerische Auftritte, die in Erinnerung bleiben.

Während diese beiden packenden Frauendrama von der offiziellen Jury unbeachtet blieben, vergaben sowohl Fipresci als auch ökumenische Jury ihren Preis an "Sibel", die Ökumenische Jury sprach zudem "Lobende Erwähnungen" für "Diane" und "A Land Imagined" aus.

Leer ging bei der Preisverleihung dagegen Jan Bonnys ziemlich radikales und provokantes "Wintermärchen" aus. Angelehnt an die NSU-Morde erzählt Bonny von einem jungen Trio, spart dabei aber jeden gesellschaftlichen Kontext und jegliche Umwelt aus und beschränkt sich ganz auf die sexuelle Beziehung und Dynamik innerhalb dieser im Untergrund lebenden Kleingruppe und ihre Anschläge auf türkische Lebensmittelläden.

Auf Ficken und Schießen lässt sich die Handlung letztlich reduzieren, verstörend wirkt der Film in dieser konsequenten Innensicht, provoziert aber gerade dadurch und regt zum Nachdenken und Diskutieren an.

Im Gegensatz zum Wettbewerb wurde im Piazzaprogramm mit Spike Lees mitreißendem "BlacKkKlansman" ein politischer Film mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. – Überraschend kam das freilich nicht, denn schwach war die Konkurrenz in dieser Programmschiene.