71. Locarno Festival: Starker Start des Wettbewerbs

Der Chinese Liang Ying und der Amerikaner Kent Jones setzen erste Akzente im Wettbewerb des Tessiner Filmfestivals. W盲hrend Ying in "A Family Tour" leise, aber eindringlich und bewegend davon erz盲hlt, wie sich die politischen Verh盲ltnisse auf das private Leben auswirken, zeichnet Jones mit einer gro脽artigen Mary Kay Place in der Hauptrolle in "Diane" das dichte Portr盲t einer Frau, die sich ganz f眉r andere aufopfert.

Autobiographisches packt Liang Ying in "A Family Affair", wenn er von einer chinesischen Regisseurin erz盲hlt, die seit ihrem letzten Film im Exil in Hongkong leben muss. Wie diese Regisseurin erz盲hlte n盲mlich auch Ying in seinem 2012 in Locarno preisgekr枚nten "When Night Falls" aus der Perspektive einer Mutter 眉ber den Prozess und die Hinrichtung ihres Sohnes, der bei einem Prozess sechs Polizisten ermordet haben soll.

Seit f眉nf Jahren hat die Regisseurin deshalb ihre Mutter, die zudem bald operiert werden muss, nicht sehen k枚nnen, nur aus Internet-Chats kennt diese ihren inzwischen vierj盲hrigen Enkel. Eine gleichzeitige Busreise der Mutter durch Taiwan und ein Besuch der Regisseurin mit Mann und Sohn in diesem Land soll nun ein heimliches Treffen erm枚glichen.

Genau achtet zwar die Reiseleiterin, die auch als Stellvertreterin des repressiven chinesischen Staates gelesen werden kann, darauf, dass die alte Frau am Besichtigungsprogramm teilnimmt, doch immer wieder ergeben sich dazwischen M枚glichkeiten zu Treffen mit Tochter, Schwiegersohn und Enkel.

Direkt wird hier immer wieder die chinesische Politik angegriffen, wenn die Mutter erw盲hnt, dass das Grab des Vaters wegen des Baus einer Stra脽e verlegt werden muss, auch ihr Haus Bauprojekten weichen muss, und die Haft des Vaters ebenso angesprochen wird wie die Niederschlagung der Bewegung von 1989.

Auch das harte Vorgehen gegen Filmschaffende wird kritisiert, wenn die Regisseurin annehmen muss, dass zwei Produzenten ihres n盲chsten Films von der Polizei verschleppt wurden, oder ihr Mann, der Filmfestivals kuratiert, erkl盲rt, dass man die Kontrollma脽nahmen und Einschr盲nkungen durch Organisation kleinerer Veranstaltungen, die weniger Aufmerksamkeit erregen, umgehen kann.

So klar und scharf der Film auf dieser verbalen Ebene aber auch in der Regimekritik ist, so leise, ruhig und zur眉ckhaltend ist er in der Inszenierung. In langen distanzierten und statischen Einstellungen und in gedeckten Farben sind die Gespr盲che gefilmt, aber es ist gerade diese Diskrepanz zwischen scharfer Kritik und sanft-unaufgeregter Form, durch die "A Family Tour" bewegende Kraft entwickelt.

Eindr眉cklich macht Ying bewusst, wie das Politische das private Leben beeinflusst und die Familien zerreisst, sodass sich die Regisseurin nur als Fremde f眉hlen kann, gleichzeitig erinnert er aber auch mit Taiwan als Schauplatz an die Zerrissenheit Chinas in zwei Staaten.

Ganz auf die von der 71-j盲hrigen Mary Kay Place gro脽artig gespielte Titelfigur fokussiert dagegen der Amerikaner Kent Jones, der bisher mehrere Dokumentarfilme drehte und das New York Film Festival leitet, in seinem Spielfilmdeb眉t "Diane". St盲ndig ist diese Frau auf den winterlich verschneiten Landstra脽en von Massachusetts unterwegs, k眉mmert sich bald um Kranke und Alte, sitzt dann wieder am Krankenbett ihrer Cousine, die an Krebs im Endstadium leidet, oder hilft bei der Ausgabe von kostenlosem Essen an sozial Bed眉rftige. Immer denkt die selbstlose Frau zun盲chst an die anderen, nie an sich.

Gro脽e Sorgen bereitet ihr aber ihr drogens眉chtiger Sohn, der offenbar einen Entzug abgebrochen hat. Auf ihre Ratschl盲ge und Ermahnungen reagiert er nur ablehnend, wird schlie脽lich aber durch eine Sekte von seiner Sucht loskommen, allerdings nur um in einen religi枚sen Wahn zu fallen.

Gegenpol zu Diane ist dieser Sohn, der immer nur an sich denkt, doch auch bei ihr wird schlie脽lich klar, dass Schuldgef眉hle das Motiv f眉r ihr selbstloses Handeln sind.

Ein klassischer US-Independent-Film ist das nicht nur im starken Portr盲t der Protagonistin, sondern auch in der realistischen Erz盲hlweise und in der atmosph盲risch dichten Verankerung der Handlung in der amerikanischen Provinz. Ungeschminkt und ohne jede Verkl盲rung wird dieses frostige Setting von Wyatt Garfields Kamera eingefangen und ungesch枚nt und aus dem Leben gegriffen wirkt nicht nur die Protagonistin, sondern auch die Nebenfiguren. - Zumindest die 脰kumenische Jury hat hier schon einen Film, den sie am Ende bei der Preisvergabe in ihre 脺berlegungen einbeziehen k枚nnte, und mit Mary Kay Place gibt es auf jeden Fall auch schon eine Anw盲rterin f眉r den Preis als beste Darstellerin.