71. Locarno Festival: Spiel mit dem Genrekino

Die Programmierung des 14-stündigen argentinischen Films "La Flor" sicherte dem Locarno Festival schon im Vorfeld mediales Interesse, wirklich überzeugen konnte das Mammutwerk aber nicht. Trotz Schwächen preisverdächtig in einem starken Wettbewerb, in dem der herausragende Film aber fehlte, dagegen "A Land Imagined" von Yeo Siew Hua, während Thomas Imbachs "Glaubenberg" enttäuschte.

Einmal in acht Teile zerteilt und ein zweites Mal in drei großen, vier bis sechs Stunden langen Blöcken wurde Mariano Llinas 14-stündiger "La Flor" gezeigt, Pressevorführung gab es keine. Der Regisseur selbst erklärt am Beginn des Films den Bauplan mit sechs Episoden mit teils offenen Enden, die sich an unterschiedlichen Genres des Kinos orientieren und vier Schauspielern, die diese Episoden zusammenhalten.

So beginnt das seit 2009 entstandene Mammutwerk als klassischer B-Horrorfilm, bei dem in einer Forschungsstation in der Wüste bald eine Mumie für Ausbruch einer Krankheit sorgt, bis diese Geschichte abrupt abbricht und retrospektiv in Schwarzweiß und mit vielen Songs von einer gescheiterten Liebe zwischen zwei Sängern erzählt wird. Eingeflochten in diese Episode ist aber auch noch ein Thriller über die Jagd nach einem Gift oder Medikament, das ewige Jugend sichern soll.

Immer komplexer scheinen so - nach Sichtung von etwa 8 Stunden des Films - die Geschichten zu werden, denn wild wuchernd, wird in der dritten Episode ein Agentenfilm entwickelt, in dessen Handlung immer wieder andere Geschichten, die bald in der DDR bald in Südostasien spielen, eingeflochten werden, ehe ein selbstreflexiver und selbstironischer Abschnitt folgt, in dem Mariano Llinas selbst ausführlich seine Unsicherheit beim Entwickeln des Drehbuchs thematisiert.

Durchaus unterhaltsam sind diese Geschichten, aber sie nach Sichtung von rund fünf Stunden des Films auch nie über ein Spiel mit Versatzstücken des Kinos und eine Hommage ans Genrekino hinaus. Sie bieten den Schauspielerinnen zwar auch immer wieder grandiose Szenen von einem endlos langen und schnellen in einer endlosen Großaufnahme gefilmten Monolog bis zu einer fantastischen Gesangsszene, doch fehlt es an Gehalt und Tiefe.

Als Etikettenschwindel erscheint auch der Verkauf als monumentales Werk, denn problemlos könnte man die einzelnen Episoden auch als einzelne Filme vermarkten, zudem treibt die Redundanz und Ausführlichkeit der einzelnen Szenen "La Flor" auch in die Länge und strapaziert die Geduld des Zuschauers.

Dass sich die Teile am Ende zu einem schlüssigen Ganzen fügen, ist aufgrund des Bauplans des Films kaum zu erwarten. Weit kompakter und kurzweiliger, aber auch kunstvoller hätte man wohl mit der Verknüpfung einiger Kurzfilme oder durch eine Kombination und Mischung der Genres die Kinogeschichte und die Möglichkeiten des Genrekinos feiern können.

So eine Mischung bietet teilweise Yeo Siew Hua mit "A Land Imagined". Atmosphärisch dicht beschwört Yeo mit gekonntem Spiel mit Licht und Farben die melancholische Stimmung der nächtlichen südostasiatischen Metropole Singapur. Auf den Spuren eines Film noir bewegt er sich, wenn ein einsamer Polizist, der nachts nicht schlafen kann, einen verschwundenen chinesischen Arbeiter, der von einer Großbaustelle, auf der Land durch Aufschüttung des Meers gewonnen wird, suchen soll.

Zur sozialrealistischen Studie der Arbeitsbedingungen und der Ausbeutung ausländischer Arbeiter wird "A Land Imagined" aber, wenn – nicht in einer Rückblende – sondern vielmehr in einem Traum des Polizisten, der seit seiner Kindheit Ereignisse in Träumen voraussieht, die Geschichte des Chinesen aufgerollt wird, ehe mit einem Cybercafe als Schauplatz auch noch Vereinsamung in der Großstadt und eine verhaltene Liebesgeschichte hereinspielen.

Etwas viel packt Yeo zweifellos hier hinein und unausgeglichen wirkt der Film in dieser Vielfalt, aber mit seiner traumhaft fließenden Erzählweise, seiner starken Bildsprache und den markanten Figuren mag dieser Mix, dessen Titel sowohl auf die Träume der Figuren als auch auf das künstlich gewonnene Land, das quasi nur ein Traum ist, anspielt, doch zu gefallen. – Durchaus vorstellbar ist, dass die von Jia Zhang-ke geleitete Jury ihm den einen oder anderen Preis zuerkennt, denn der herausragende Filme fehlte in dem insgesamt starken Wettbewerb bislang.

Schwer vorstellen kann man sich dagegen, dass Thomas Imbachs "Glaubenberg" zu den Preisträgern zählen wird. Zu dieser Geschichte der obsessiven Liebe einer 16-Jährigen zu ihrem zwei Jahre älteren Bruder hat sich der Schweizer laut Vorspanninsert sowohl von persönlichen Jugenderfahrungen als auch von Ovids Mythos "Byblis und Kaunos" inspirieren lassen.

Durchaus Dynamik und Leidenschaftlichkeit entwickelt der Film im ersten Teil, in dem mit ungemein naher und bewegter Kamera die sich zunehmend steigernde Liebe Lenas vermittelt wird. Je mehr sie sich aber in ihren Wahn hineinsteigert und auch für den Zuschauer die Grenzen von Realität und Einbildung teilweise verschwimmen, gleichwohl Lenas Umwelt auf dieses psychische Problem kaum reagiert, desto mehr verliert "Glaubenberg" an Glaubwürdigkeit und damit auch an emotionaler Kraft.

Mehr behauptet als wirklich erfahrbar wird so die verzehrende Urkraft der Sehnsucht und der Liebe, aber auch als Coming-of-Age-Geschichte und Erkundung einer Obsession kann "Glaubenberg" nicht überzeugen, da einem dazu die von Zsofia Körös gespielte Protagonistin, an deren Gesicht sich Imbachs Kamera nicht sattsehen kann und aus deren Perspektive der Schweizer weitgehend erzählt, letztlich fremd bleibt.