71. Locarno Festival: Geschlossene Welten

Richard Billingham sorgt mit seinem schonungslosen autobiographischen Familienporträt "Ray & Liz" für einen Höhepunkt im Wettbewerb. In ein idyllisches libanesisches Bergtal entführt dagegen Abbas Fahdel in seinem bildschönen meditativen Spielfilm "Yara", während Yolande Zauberman in ihrem Dokumentarfilm "M" dem Kindesmissbrauch in der Welt der ultraorthodoxen jüdischen Haredim nachspürt.

Der 1970 geborene Brite Richard Billingham hat schon in Fotoserien und kurzen Dokumentarfilmen seine Eltern porträtiert. In seinem ersten Spielfilm "Ray & Liz" blickt er nun von einer Rahmenhandlung ausgehend, in der man den alten und alkoholsüchtigen Ray in seiner verdreckten Wohnung sieht, die er wohl nie verlässt, in zwei Episoden auf seine Kindheit in den 1980er Jahren zurück.

Im Zentrum der ersten Episode, in der die Familie noch in einem Backsteinhaus wohnt, steht der Besuch des geistig zurückgebliebenen Onkels Lawrence, der in Abwesenheit der Eltern auf Richards kleineren Bruder Jason aufpassen soll. Doch Lawrence wird vom älteren Bruder William mit Alkohol abgefüllt und von der Mutter Liz bei ihrer Rückkehr brutal verprügelt.

Im Zentrum der zweiten Episode, die in einer Hochhauswohnung spielt, steht der nun etwa achtjährige Jason, der ganz sich selbst überlassen ist. Unbemerkt bleibt offensichtlich auch, dass er nach einem Lagerfeuer mit anderen Kindern mehrere Tage nicht nach Hause kommt, im Freien übernachtet und nur durch die Fürsorge der Mutter eines Freundes überlebt.

Der auf 16-Millimeter gedrehte Film besticht nicht nur durch eine unglaubliche Detailtreue in der Rekonstruktion dieser desolaten und verdreckten Lebenswelt, sondern auch durch unverbrauchte Schauspieler, die diese realen Charaktere mit einer Natürlichkeit spielen, dass "Ray & Liz" eine quasidokumentarische Dichte und Authentizität entwickelt.

Ganz auf die Beschreibung dieser Zustände beschränkt sich Billingham in seinem beklemmenden Film, in dem auch Momente grimmigen schwarzen Humors nicht fehlen. Er betreibt keine Ursachenforschung, wirft aber allein in der Schilderung der Zustände und in der Kontrastierung der Vernachlässigung Jasons durch die Eltern und die Nähe und Wärme, die er am Ende in der gepflegten Wohnung des Freundes erfährt, die Frage nach der Verantwortung der Eltern und nach den Bedürfnissen eines Kindes auf.

Nichts ist hier vom spielerischen Freiraum zu spüren, den die Kids in Sean Bakers ebenfalls am Rand der Gesellschaft spielenden "The Florida Project" entwickeln, aber auch nichts von der nahen Mutter-Kindbeziehung, die es dort immerhin noch gibt. Einzige Sorge der Mutter ist in "Ray & Liz", als das Sozialamt Jason in eine Pflegefamilie übergibt, dass nun wöchentlich 25 Pfund Unterstützung entfallen, und traurig bleibt der etwa 15-jährige Richard zurück, der auch gerne zu einer Pflegefamilie kommen würde, aber von den Sozialarbeitern damit vertröstet wird, dass er nun eben durchhalten müsse, bis er erwachsen sei und dann die Eltern verlassen könne.

Wie hier Außenstehende wie kaum sonst einen Blick in eine erschütternde Lebenswelt bekommen – man kann Billingham dabei aber auch vorwerfen, dass er das Leben seiner Eltern schonungslos ausbeutet –, so entführt auch Yolande Zauberman in ihrem Dokumentarfilm "M" den Zuschauer in eine abgeschlossene Welt. Mit dem 35-jährigen Sänger Menahem Lang, der im Jerusalemer Viertel Bnei Barak aufwuchs, spürt sie 15 Jahre nachdem er wegzog, dem Kindesmissbrauch und dem gestörten Verhältnis zur Sexualität in diesem Zentrum der ultraorthodoxen jüdischen Haredim nach.

Anstrengend ist dieser Film in seiner Beschränkung auf sprechende Köpfe und mit seinen teilweise wohl mit versteckter Kamera aufgenommenen Bildern auch visuell wenig begeisternd, deckt aber in den Begegnungen Menahems mit anderen männlichen Bewohnern dieses Viertels auf, dass sein mehrfacher Missbrauch in dieser Gesellschaft keinesfalls ein Einzelfall, sondern dies vielmehr weit verbreitet ist, aber kaum publik gemacht und angezeigt wird, sondern sich ein Teufelskreis entwickelt, bei dem die Vergewaltigten selbst wieder zu Vergewaltigern werden.

In eine geradezu idyllisch verklärte Welt entführt dagegen der 59-jährige irakisch-französische Regisseur Abbas Fahdel den Zuschauer in seinem zweiten Spielfilm "Yara". Schon mit einer Abfolge von sonnendurchfluteten und in warme Farben getauchten Einstellungen eines Esels, von Hühnern und Katzen sowie der unberührten nordlibanesischen Berglandschaft um den Bauernhof, auf dem die etwa 16-jährige Yara seit dem Unfalltod ihrer Eltern allein mit ihrer Großmutter lebt, stimmt Fahdel den Zuschauer auf diese Welt fern der Moderne ein.

Immer wieder wiederholt Fahdel diese Einstellungen von Natur und Tieren, beschränkt sich ganz auf den Bauernhof und seine nächste Umgebung und entwickelt nur sehr reduziert und unaufgeregt eine Geschichte. Denn nicht viel passiert hier, außer einem Bergführer, einem kleinen Jungen, einem Händler und einem Nachbarn, der einmal beim Beschlagen des Esels hilft, kommt hier nur ein wandernder Teenager vorbei. Dieser wiederholt seine Besuche freilich bald und zwischen ihm und Yara entwickelt sich eine ebenso unschuldige wie zarte erste Liebe.

Auf Dramatisierung verzichtet Fahdel bis zum Ende, deutet eher beiläufig an, dass man in dieser Gegend nicht gern sieht, wenn sich ein unverheiratetes Mädchen mit einem Mann trifft. Einlassen muss man sich freilich auf den meditativen Rhythmus dieses Films, dann aber kann man dank der runden und geschlossenen Erzählweise 100 Minuten abtauchen in diese von jeder Hektik so fernen bäuerlichen Welt, die hier freilich auch verklärt wird, und anhand der ebenso reduzierten wie einfachen Geschichte darüber reflektieren, was letztlich wesentlich im Leben ist.