Bislang unbekannte Kleist-Briefe im Tiroler Ferdinandeum entdeckt

Mit einem Jahrhundertfund wartet das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum auf. In einem Teilnachlass des österreichischen Diplomaten Joseph von Buol-Berenberg, der sich seit 2007 in der Bibliothek des Tiroler Landesmuseums befindet, entdeckte der Literaturwissenschaftler Hermann F. Weiss (University of Michigan) fünf bislang unbekannte Briefe von Heinrich von Kleist. Roland Sila, dem heutigen Leiter der Bibliothek der Ferdinandeums, wurde dieser Nachlass 2006 zum ersten Mal gezeigt. Die Lagerung in einem Keller, teilweise in Obstkisten, machte eine rasche Bergung erforderlich.

Am 31. August 2007 wurde das Archiv, dessen historischer und finanzieller Wert damals kaum bekannt war, dem TLMF als "Schenkung Familie von Buol-Berenberg" übergeben. 

Roland Sila zu diesem bedeutenden Fund: "Für uns haben diese Briefe vor allem einen dokumentarischen und wissenschaftlichen Wert und es zeigt sich, wie wichtig es für die Wissenschaft ist, nicht nur das Internet als Recherchequelle zu nutzen, sondern vor allem auch die Bestände von Archiven genau zu sichten. Gerade Bibliotheken benötigen mehr Personalressourcen, um auf diesem Gebiet mehr Forschungsarbeit leisten zu können."

Bei den aufgetauchten Briefen handelt sich um den größten Fund an Kleist-Autografen seit über 100 Jahren. Mit der Veröffentlichung des "Kleist-Jahrbuchs 2024" wird dieser Jahrhundertfund der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Briefe sind unter anderem ein Beleg dafür, dass sich Heinrich von Kleist auch als politischer Autor sah.

Die neu aufgefundenen fünf Briefe Heinrich von Kleists (1777–1811), datiert zwischen dem 22. Mai 1809 und dem 28. Januar 1810, sind an den österreichischen Diplomaten Joseph von Buol-Berenberg (1773–1812) gerichtet. Kleist hatte Buol im Sommer 1807 als Legationsrat der österreichischen Gesandtschaft in Dresden kennengelernt. Buol war Zentrum eines Kreises von Patrioten, die auf einen Kriegseintritt Preußens gegen Napoleon hinarbeiteten. Spätestens durch die Bekanntschaft mit Buol und dessen Kreis begann Kleists zunehmend anti-napoleonische und patriotische Orientierung, die eine Reihe an – z.T. bis heute kontrovers diskutierten – politischen Schriften hervorgebracht hat. Hierzu zählen Kleists politische ›Lieder‹, der ›Katechismus der Deutschen‹ sowie die Dramen ›Die Herrmannsschlacht‹ und ›Prinz Friedrich von Homburg‹. 

Die neu aufgefundenen Briefe fallen überwiegend in die Zeit des Fünften Koalitionskrieges (April bis Oktober 1809) zwischen Österreich und Frankreich, auf dessen Seite das von Napoleon zum Königreich erhobene Sachsen kämpfte. Als Buol deshalb Dresden im April 1809 verlassen musste, reiste ihm Kleist gemeinsam mit dem späteren Historiker und Staatsmann Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860) in Richtung Prag hinterher. Die Weiterreise nach Wien scheiterte am Einzug Napoleons in die Stadt, jedoch gelangten Kleist und Dahlmann in unmittelbare Nähe des Marchfeldes am linken Donauufer, wo am 21./22. Mai die Schlacht bei Aspern stattfand. 

Die ersten Briefe zeigen Kleist als euphorischen Augenzeugen dieser Schlacht und als Berichterstatter, der Buol mit tagesaktuellen Informationen zum Schlachtgeschehen versorgte. Kleists Euphorie wich einer tiefen Enttäuschung nach der für Österreich verlorenen Schlacht bei Wagram (5./6. Juli). Kleists (und Dahlmanns) Pläne zur Gründung einer Zeitschrift mit dem Titel ›Germania‹ wurden obsolet; in Berlin kursierten gar von u.a. Adam Müller verbreitete Gerüchte über Kleists Tod in einem Prager Spital. Um den Jahreswechsel 1809/10 verliert sich Kleists Spur für mehrere Wochen. Der fünfte Brief bringt etwas Licht in diese Phase und berichtet über eine rätselhafte Reise, die Kleist u.a. nach Frankfurt am Main geführt hate. Er musste diese Reise allerdings abbrechen und entschloss sich, nach Berlin zu gehen, wo er Anfang Februar 1810 ankam und bis zu seinem Tod geblieben ist.