Wenn ich etwas bin, dann bin ich ein Indianer

"Wer malt den Blues? freundlich, zuverlässig, kompetent seit 1971." Mit diesem und ähnlichen Slogans versieht Willi Oertig unermüdlich Dossiers und Briefkuverts, die seine Gemälde von leeren Strassenzügen, Telefonzellen und Bahnhöfen ankündigen. Er scheint immer unterwegs zu sein – zumindest in seinen Bildern. Er gestaltet Stimmungen, denen eine Sinnbildlichkeit anhaftet, so dass sie zu Projektionsflächen der Entfremdung, aber auch des Fernwehs werden. Willi malt den Blues.

Die vertraut rotweisse Leuchtschrift streut ihr kaltes Licht über eine entlegene Tankstelle und lässt die asphaltierte Plattform wie eine Raumstation aus der bodenlosen Thurgauer Nacht auftauchen. Willi Oertig gestaltet Stimmungen, denen eine Sinnbildlichkeit anhaftet, so dass sie zu Projektionsflächen der Entfremdung, aber auch des Fernwehs werden. Seine beschaulichen, märklin’schen Modelllandschaften und von Nippes gefüllten Interieurs und Städte entleerten sich über die Jahre hinweg zusehends, bis in den jüngsten Bildern die Schienenstränge mit beklemmender Sachlichkeit durch steril wirkende Fluren in die Ferne führen. Während die Tankstellen noch an Roadmovies und Szenerien von Edward Hopper erinnern, gerinnen bereinigte Küsten und Strände hinter zubetonierten Uferpromenaden zu Orten unendlicher Traurigkeit. Doch wie der Blues sind Willi Oertigs Gemälde schön, weil sie in ihrer Ausschnitthaftigkeit ein spezifisches, aber unbenennbares Gefühl des Verlusts und der Melancholie ausdrücken.

Nicht nur die Landschaften, auch banale Alltagsgegenstände erscheinen in Willi Oertigs Ölgemälden beunruhigend, mit einem Mal befremdlich: ein deformiert wirkender Zugsitz, ein Strommast, ein Feuerzeug – in der Konzentration auf die Essenz der Dingwelt werden existenzielle Fragen ausgefochten. Der sachliche Umriss der Zimmerpflanze wird zum messerscharfen Grat, an dem die Realität bisweilen ins Halluzinatorische kippt. Atmosphärisch flimmernd, aufgeladen durch eine besondere Lichtführung, wird mit den Mitteln der Malerei die sichtbare Wirklichkeit in eine Bühne verwandelt. Und für einen Augenblick erfasst der Lichtkegel am Bahnsteig irgendeiner Kleinstadt den ganzen Weltschmerz einer Gesellschaft in der Warteschleife, auf der Durchreise. Tankstellen, Bahnhöfe und Stromleitungen, die sich am Horizont verlieren, sie liegen still im Dämmerlicht, das die Kulissen – sei es in Paris oder in Kradolf – in diffuses Blau taucht, um einen Moment in diesem Schwebezustand zu verharren, bevor es sich im Nirgendwo zwischen Tag und Nacht verliert und der Blues leise klingt.

Willi Oertig wurde 1947 in Zürich geboren, zog 1989 in den Thurgau, wo er seit 1994 in Kradolf lebt. Seine Bilder produzieren Erinnerungen an Motive und Inhalte, die seit der Romantik über die Neue Sachlichkeit bis hin zur Dekonstruktion des Abbildungsanspruchs immer wieder neu verhandelt wurden. So ist es auch die Stringenz, mit der der Autodidakt an einer zeitgemässen Umsetzung von Grundfragen der Malerei arbeitet, die dieses Werk sehr aktuell erscheinen lässt.

Wenn ich etwas bin, dann bin ich ein Indianer
21. Oktober 2012 bis 31. März 2013