Welt in Farbe

Vor 100 Jahren schickte der französische Philanthrop Albert Kahn 20 Fotografen nach Europa, Asien, Afrika und Amerika, um Menschen, Landschaften und Monumente mit neusten farbfotografischen Verfahren zu dokumentieren. Mit dem Grossprojekt wollte der französische Bankier in einer Zeit, als die Nationen zum grossen Krieg rüsteten, einen Beitrag zum Weltfrieden leisten. Die 72"000 Glasplatten – lange Zeit vergessen – werden heute als Meilenstein der Geschichte der Dokumentarfotografie gefeiert.

1907 sah der aus dem Elsass stammende jüdische Bankier Albert Kahn (1860–1940) eine Vorführung der Brüder Lumière. Die beiden Film- und Fotopioniere zeigten grossformatige farbige Diapositive, sogenannte Autochrome. Albert Kahn war von den farbtreuen Bildern, die man mit einer einzigen Aufnahme erzeugen konnte, so begeistert, dass er ein weltumspannendes Projekt ins Leben rief: "Les archives de la planète". Während 20 Jahren schickte er insgesamt 20 Fotografen und Filmteams hinaus in die Welt. Sie bereisten nicht weniger als 50 Länder in Europa, Asien, Afrika und Amerika. Bis 1931 türmten sich im Archiv von Kahns Pariser Vorstadtvilla 72"000 Autochrome und 183"000 Meter Zelluloidfilme. Im Börsenkrach von 1929 verlor der Philanthrop sein Vermögen und die Archiv-Aktivitäten wurden 1931 eingestellt. 1940 starb er verarmt, wenige Monate nach der deutschen Besetzung von Paris.

Inspiriert vom Gedankengut des Philosophen und Nobelpreisträgers für Literatur, Henri-Louis Bergson (1859–1941), war Kahn überzeugt: Nur ein Austausch – die Kenntnis der Kulturen der Welt – führt zu einem friedlichen Zusammenleben der Menschen. Wer sich kennt und respektiert, will nicht Krieg führen. Die reisenden Fotografen hatten den Auftrag, lokale Szenerien, entspannte Alltagssituationen, Menschen in ihrer typischen Kleidung und Uniformen, Strassenansichten sowie berühmte Monumente einzufangen. Kahn erwartete weder Reportagen oder Kunstbilder noch ethnologische Feldforschung. Sein Interesse galt der traditionellen Welt, den lokalen Eigenheiten und dem friedsamen Zusammenleben des 19. Jahrhunderts.

In seinen Augen war diese Welt dem Untergang geweiht, und als hätte er eine Vorahnung des bevorstehenden Kriegs, lag ihm daran, mit einem Weltfoto- und Filmarchiv die alten Kulturtraditionen sowie die weltumspannende Vielfalt der Menschen festzuhalten und diese zu dokumentieren. Gerade das Arrangement und das bunte Nebeneinander der unzähligen farbfotografischen Zeitdokumente lassen die Idee des gleichzeitig Verschiedenen und Gleichen aller Menschen und Kulturen deutlich werden. Seine Friedensmission – das Fremde in die Nähe zu holen und den Menschen von Angesicht zu Angesicht zu begegnen – blieb Kahns fortwährende Hauptmotivation, auch als sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 nicht mehr aufhalten liess.

Der technische Aufwand für eine Aufnahme war beträchtlich. Die Glasplatten mussten vor Ort mit orangerot, grün und violett eingefärbten Stärkekörnchen aus Kartoffeln und einer lichtempfindlichen Emulsion äusserst sorgfältig bestrichen werden. Dichte Filter und unempfindliches Filmmaterial forderten direktes Sonnenlicht und Stillhalten bei der Aufnahme. Die starren Posen und nachdenklichen Gesichtsausdrücke der fotografierten Menschen sowie die zart schillernden Farben wurden zum Markenzeichen der Autochrome von Kahns Archiv. Die belichteten Glasplatten sind sehr lichtempfindlich und können heute aus konservatorischen Gründen nicht mehr ausgestellt werden.

Geführt und aufgebaut wurden die Kahnschen "Archives de la planète" vom Humangeografen Jean Brunhes (1869–1930). Die Bilder waren nicht für ein grosses Publikum gedacht, sondern wurden bei Vorträgen und Diskussionsrunden in elitären Kreisen aus Politikern, Wissenschaftlern sowie Kulturschaffenden vorgeführt. Nicht weniger als 4000 Personen sind vermerkt, die Kahns Anwesen besucht haben: französische, aber auch internationale Prominenz aus Politik und Hochadel; Nobelpreisträger wie Marie Curie, Albert Einstein, Rudyard Kipling, Thomas Mann, André Gide und Rabindranath Tagore sowie weitere Kulturprominente wie der Bildhauer Auguste Rodin, Schriftsteller wie James Joyce und H. G. Wells oder Musiker wie Gabriel Fauré und Arthur Honegger.

Die Ausstellung zeigt rund 80 Farbfotografien aus den "Archives de la planète", von denen die meisten 1913/14, also kurz vor Kriegsbeginn, entstanden sind. Der Grossteil stammt vom Fotografen Stéphane Passet (1875–?), der 1913 zu einer Asien-Reise aufbrach, die ihn über Griechenland, die Türkei nach China, in die Mongolei und schliesslich nach Indien führte. Unter anderen sind auch die ersten Farbfotografien, die aus Irland bekannt sind, zu sehen. Sie stammen von der einzigen Fotografin in Kahns Team, der Anglistin Marguerite Mespoulet, die 1913 in Irland unterwegs war.

Ergänzt wird die Ausstellung mit einer Fotoprojektion und mit 25 Farbfotoabzügen eines anderen fotodokumentarischen Grossprojekts. Sie stammen von Sergej M. Prokudin-Gorskii (1863–1944), der zwischen 1909 und 1915 im Auftrag des Zaren Nikolaus II. mit nicht weniger als 10’000 Farbaufnahmen das Alltagsleben im russischen Reich von der Krim bis Sibirien dokumentierte. Schliesslich werden an einem Büchertisch originale Fotobücher aus der Vorkriegszeit aufgelegt. Es sind Werke eines weiteren Farbfotografie-Projekts jener Jahre: "Bilder aus den deutschen Kolonien". Die in hoher Auflage gedruckten Bildwerke verdeutlichen den damals vorherrschenden europäischen Zeitgeist, der auch die Aufnahmen aus den "Archives de la planète" prägen.


Der Katalog zur Ausstellung umfasst 144 Seiten, 101 ganzseitige, oftmals erstmals veröffentlichte Abbildungen und erscheint im Hatje Cantz Verlag. Er ist im Museumsshop zum Vorzugspreis von CHF 24 erhältlich, im Buchhandel für ca. CHF 38.

Welt in Farbe
Farbfotografie vor 1915
8. Mai bis 27. September 2015