Wahlfamilie - Zusammen weniger allein

Die Ausstellung beleuchtet anhand von Werken aus der Sammlung des Fotomuseum Winterthur sowie internationalen Positionen, wie (Wahl-)Familie als soziales und kulturelles Konstrukt fotografisch verhandelt und dargestellt wird. Die künstlerischen Herangehensweisen sind dabei so unterschiedlich wie die jeweiligen Familiengeschichten, die sie ins Bild setzen.

So spielt die Aufarbeitung der eigenen Familienhistorie mittels Fotografien aus dem Familienarchiv und fotografischen Zeitdokumenten in der Arbeit von Alba Zari eine Rolle. Anhand von Text- und Bildfragmenten erkundet die Künstlerin, die in eine christlich-fundamentalistische Sekte hineingeboren wurde, die Geschichte ihrer Familie und dabei ihre eigene Identität. Auch der Fotograf Lindokuhle Sobekwa rekonstruiert mithilfe von Bildern Ereignisse aus der Vergangenheit. Als er erst siebenjährig war, verschwand seine sechs Jahre ältere Schwester spurlos und kehrte erst zehn Jahre später zurück. Mithilfe eines dokumentarischen Fotobuchs versucht sich Sobekwa – wortwörtlich – ein Bild zu machen von jener prägenden Zeit, von der er so wenig weiss und über die lange Zeit nicht gesprochen wurde. Richard Billingham wiederum setzt sich mit seiner eignen Geschichte und Biografie auseinander, indem er auf liebevolle und doch schonungslose Art und Weise das Leben und den Alltag seiner Eltern und somit eines von Armut und Sucht geprägten Haushalts dokumentiert. Diana Markosian arbeitet ihre Familiengeschichte in einem Kurzfilm mittels gecasteter Schauspieler:innen und durchdachter Setfotografien auf. In narrativen Videosequenzen re-inszeniert Markosian ihre eigenen Kindheitserinnerungen als cineastische Bilderwelt. Dabei bestimmt die Migrationserfahrung ihrer Mutter, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihren Mann verliess und mit ihren Kindern in die USA migrierte, um einen Amerikaner zu heiraten, die Perspektive des Films.

Weitere Künstler:innen setzen sich und ihre Familienmitglieder in teils aufwändig arrangierten Umgebungen in Szene – und reflektieren dabei die Rollen der einzelnen Familienmitglieder sowie die Position, die die Fotograf:innen selber innerhalb familialer Strukturen einnehmen, indem sie diese aufbrechen und neu inszenieren. Bei dieser Erkundung von Familiendynamiken werden Familienmitglieder zu Kooperationspartner:innen in der Bildfindung: Charlie Engman beispielsweise inszeniert seine "Mom" in Umgebungen, die wenig mit unserer Vorstellung der Alltagsrealität einer Mutter gemein haben: mal posiert sie mit wasserstoffblonder Perücke, blauem Lidschatten und grimmig-forderndem Blick, mal klettert sie in weisser Unterhose eine an einem Baum befestigte Strickleiter hoch. Engmans Arbeiten stellen dabei – durchaus mit einem Augenzwinkern – das eindimensionale Bild der fürsorglichen Mutter infrage. Auch Pixie Liao reibt sich spielerisch an klassischen Rollenbildern: Sie porträtiert sich gemeinsam mit ihrem Partner und spielt dabei auf subtile Art und Weise mit stereotypen Vorstellungen von Mann und Frau. Auf den Fotografien legt ihr Partner beispielsweise seinen Kopf an ihre Schulter oder wird von ihr in die Arme genommen. Der Fotograf Leonard Suryajaya wiederum inszeniert seine Eltern und seine erweiterte Familie mit symbolträchtigen Requisiten in aufwändig hergerichteten, mit Teppichen und Tüchern ausgestatteten Umgebungen. Die teils skurrilen Interaktionen der einzelnen Familienmitglieder kontrastieren dabei unsere Vorstellungen eines konventionellen Familienbildes.

Dass Familie sich über weitaus mehr als (Bluts-)Verwandtschaft definieren lässt und über tief verbundene Konstellationen in Gemeinschaften und Communities gelebt wird, ist Thema weiterer künstlerischer Auseinandersetzungen. An ihnen zeigt sich, wie mithilfe der Fotografie neue "Familienbilder" entstehen, die Alternativen zum bürgerlichen Verständnis der Familie ermöglichen, indem sie Gemeinschaften jenseits traditioneller familialer Konstellationen abbilden und damit unsere Vorstellungen konventioneller Familien in Frage stellen. So begleitete Dayanita Singh beispielsweise in den 1990er-Jahren Mona Ahmed und ihre Adoptivtochter Ayesha mit ihrer Kamera. Ahmed gehört den Hijras an – einer Community, die sich einem binären Geschlechterverständnis verweigert und deren Mitglieder sich jenseits der zweigeschlechtlichen Norm verorten. Die britische Kolonialherrschaft kriminalisierte die jahrtausendealte Gemeinschaft, die bis heute Diskriminierung und Gewalt erlebt. Als Betrachtende von Singhs Arbeit werden wir mit Bildern konfrontiert, die unsere Auffassung traditioneller Familien und Gemeinschaften hinterfragt. Auch der Fotograf Mark Morrisroe zeigt Zusammenhalt abseits von Verwandtschaft: Er porträtierte seine Freund:innen und Liebhaber:innen – seine Gang – die für ihn Dreh- und Angelpunkt seines Lebens und Alltags waren. Die tiefe emotionale Verbindung zwischen den Protagonist:innen wird in den Bilder deutlich; die Fotografien drücken Kompliz:innenschaft sowie ein Zusammengehörigkeitsgefühl aus – und verkörpern die Idee von Wahlfamilie.

Nebst den Werken internationaler Kunstschaffender zeigt das Fotomuseum Winterthur auch Fotoalben und die dazugehörigen Geschichten von Familien aus Winterthur und der Schweiz.

Wahlfamilie
Zusammen weniger allein
Bis 16. Oktober 2022