Viennale 2013: Schachcomputer, Seilbahnfahrten und bäuerliches Leben

Weltpremieren bietet die Viennale zwar kaum, kann dafür aber die Perlen des Filmjahres herauspicken. Die größte Stärke des Wiener Filmfestivals ist dabei der Mix aus großen Namen und kleinen unabhängigen Filmen, aus aktuellen Produktionen und Pflege der Filmgeschichte.

Viel Flair gewinnt die Viennale schon dadurch, dass die Spielstätten über die Innenstadt verteilt sind. Anders als beispielsweise bei der Berlinale, die sich großteils um den Potsdamer Platz abspielt, streift man hier beim Kinowechsel immer wieder vom Karlsplatz zur Urania oder vom Schwarzenbergplatz zum altehrwürdigen Metro-Kino. Doch passen muss freilich auch die Filmauswahl.

Für jeden etwas bietet hier die Mischung von Festivalhits wie dem Coen-Film "Inside Llewyn Davis", Asghar Farhadis "Le passé", Abdellatif Kechiches Cannes-Sieger "La vie d´Adèle - Chapitres 1 et 2" oder Alexander Paynes "Nebraska" und kleinen Perlen. Während erstere in die Kinos kommen werden, wird man letztere vielleicht nur auf Festivals wie der Viennale sehen. Gerade auf diese Filme sollte man deshalb sein Augenmerk richten.

Stark präsentierte sich in dieser Beziehung vor allem das unabhängige US-Kino. Ein wunderbar schräges Filmjuwel gelang beispielsweise Andrew Bujalski mit "Computer Chess". Wüsste man es nicht besser, könnte man diesen in schwammigem Schwarzweiß und 4:3 Format mit einer Sony-Videokamera aus den 1980er Jahren gedrehten Film, lange für einen Dokumentarfilm halten.

Knochentrocken und nüchtern erzählt Bujalski von einem Turnier für Computerschach Anfang der 1980er Jahre. Von der Vorstellung des Turniers und der Teilnehmer über den Wettkampf bis zur Abreise der Protagonisten spannt sich der Film und wird dabei fast nie das Hotel verlassen.

Retro-Schick bestimmt "Computer Chess" aber nicht nur in der Form, sondern natürlich auch in der Ausstattung. Herrlich getroffen und mit viel Liebe zum Detail in Szene gesetzt sind die Teilnehmer mit ihren Schnurrbärten, Frisuren und Kleidung sowie den monströs großen Computern. Mit genauem Timing lässt Bujalski dieses Turnier dann immer stärker mit einem esoterischen Selbstfindungskurs kollidieren und stellt so Technikgläubigkeit und Gefühl gegenüber, wobei schließlich auch die Computer ein Eigenleben entwickeln. Das Wunder dabei ist freilich, dass der Film, so schräg und absurd das Gezeigte auch ist, im Ton immer ernst bleibt und gerade dadurch größten Witz entwickelt.

Einen starken Eindruck hinterließ auch "Bluebird" von Lance Edmands. Vor dem Hintergrund der in der Krise befindlichen Holzwirtschaft in amerikanischen Bundesstaat Maine und atmosphärisch dicht eingebettet in eine winterliche Kleinstadt erzählt Edmands in seinem Langfilmdebüt von einer Schulbusfahrerin, die ein im Bus schlafendes Kind übersieht. Als der Junge am nächsten Morgen entdeckt wird, liegt er mit hypothermischem Schock im Koma.

In seinem sorgfältig aufgebauten, dicht inszenierten und großartig gespielten Drama wirft Edmands packend Fragen von Schuld und Verantwortung auf und zeigt bewegend, wie die Familie der Busfahrerin an dieser Last zu zerbrechen droht, lässt den Film aber dennoch nicht hoffnungslos enden. Einziges Problem von "Bluebird" ist, dass dieser kleine Film von Handlung über Atmosphäre bis hin zu einem Anwalt, der Schadenersatz herausschlagen will, ständig die Erinnerung an Atom Egoyans Meisterwerk "The Sweet Hereafter" weckt.

Dass auch das deutsche Kino noch zu überraschen vermag, zeigte der Schweizer Ramon Zürcher mit seinem an der deutschen Film- und Fernsehakademie entstandenen Debüt "Das merkwürdige Kätzchen". Im Stil der Berliner Schule beschränkt sich Zürcher auf Alltägliches, erzählt von nichts weiter als einem Familientreffen an einem Samstag in einer Berliner Wohnung. Vom Frühstück, übers Eintreffen des Schwagers mit Familie bis zum Abendessen spannt sich der Bogen, nur in referierten Erinnerungen verlässt der Film die Wohnung.

Liebevoll gehen die Familienmitglieder weitgehend miteinander um und doch finden sich dazwischen immer wieder Momente der Aggression, nähert sich ein Fuß dem Kopf der Katze, erhält die kleine Clara wegen einer Nichtigkeit eine Ohrfeige, wird dem Cousin ein Knopf abgerissen, schaltet die Mutter den Mixer ein, um ein Gespräch abzuwürgen, oder blickt abwesend zum Fenster hinaus.

Nicht von einer Geschichte, sondern vielmehr von der Atmosphäre, dem Rhythmus der Szenen und den Pausen, die hier mehrfach mit von Musik unterlegten Bildern einer Kaffeetasse, einem Milchglas, einer Flasche oder einem Nachtfalter gesetzt werden, lebt "Das merkwürdige Kätzchen". In diesem Schwebenden lässt sich dieser Film nicht so leicht auf den Punkt bringen, sondern löst eine Irritation aus, durch die man ihn nicht so leicht beiseite schieben und vergessen kann.

Haben diese Filme durchaus Chancen auf eine Kinoauswertung, so bietet die Viennale daneben unter dem Titel "Propositions – Ausgewählte Beispiele eines neuen Kinos" auch Filmen eine Plattform, die eine radikal eigene Sprache sprechen. Ein Beispiel dafür ist "Manakamana" von Stephanie Spray und Pacho Velez. Die Kamera ist in diesem von Lucien Castain-Taylor and Verena Paravel, den Regisseuren des experimentellen Dokumentarfilms "Leviathan", produzierte Film fix montiert in einer Kabine der Seilbahn, die zum Manakamana-Tempel in Nepal führt. Sechsmal fährt man in den 118 Minuten des Films mit der Gondel den Berg hoch, sechsmal den Berg hinunter.

Mal sitzt der Kamera ein Ehepaar gegenüber, mal sind Ziegen Fahrgäste, mal eine Touristin, dann eine Mutter und Tochter, die erstmals im Leben ein Eis essen. Rund 10 Minuten lässt der Film den Zuschauern jeweils Zeit die Fahrgäste zu studieren, öffnet gleichzeitig im Hintergrund den Blick auf den Bergrücken, wobei man einmal talwärts, dann wieder bergwärts schaut, und lässt die Fahrt im Schaukeln der Gondel im Ruckeln über die Räder der Seilbahnstützen miterleben. - Nichts lenkt hier den Blick ab, entschlackt und aufs Äußerste reduziert ist dieses Spiel mit dem Gegensatz von Statik der Kamera und Bewegung der Bahn, Enge der Kabine und Weite der Landschaft, lädt aber gerade in dieser Reduktion und seinen Wiederholungen bei gleichzeitig wechselnden Fahrgästen zur Meditation ein.

Und neben der Präsentation von aktuellen Produktionen pflegt die Viennale immer auch die Filmgeschichte. Im Zentrum steht dabei zwar jeweils die Retrospektive, die heuer Jerry Lewis gewidmet war, doch auch vergessene Meisterwerke wie beispielsweise Dominique Benichetis Dokumentarfilm "Le cousin Jules" können hier wiederentdeckt werden.

Von 1968 bis 1973 filmte Benicheti den Alltag eines alten Bauern in Burgund und seiner Frau. Keine Dialoge gibt es, die Tonspur beschränkt sich auf die Geräusche des Feuers, der Holzschuhe, des Blasebalgs oder des Schmiedehammers. Wortlos zeichnet Benicheti so in akribischer Beobachtung den Tagesablauf eines Lebens fern der modernen Zivilisation nach. Nur einmal taucht ein Auto auf, erst am Ende sieht man, dass der Bauernhof auch über Elektrizität verfügt.

In eine andere Welt und Zeit kann man im ruhigen Rhythmus der Bilder eintauchen, für Irritation sorgt nur eine eingefrorene Einstellung etwa in der Mitte des Films – das letzte Bild mit der während der Dreharbeiten verstorbenen Frau des Bauern.