Viennale 2012: Großstadtfestival mit eigenem Flair

Anders als Berlin, Venedig oder Cannes ist die Viennale weniger eine Veranstaltung der Fachwelt als vielmehr ein Publikumsfestival. Quer durch altehrwürdige Kinos der Innenstadt wird vom späten Vormittag bis Mitternacht gezeigt, was auf den Festivals des Jahres Aufsehen erregte. Dazu gehörte auch Florian Flickers "Grenzgänger" und mit Antonin Svobodas "The Strange Case of Wilhelm Reich" stand auch die Weltpremiere eines österreichischen Films auf dem Programm.

Das Ziel von 100.000 Besuchern konnte Festivalleiter Hans Hurch zwar nicht ganz erreichen, doch immerhin wurde mit 96.900 Eintritten das Vorjahrsergebnis gehalten. 114 der 345 Vorstellungen waren ausverkauft, großen Zuspruch erhielt das "Tribute to Michael Caine"“ und das Programm "Wien – Moskau" des Filmarchiv Austria.

Preise spielen bei der Viennale eine Nebenrolle, dennoch gibt es sie. Michael Hanekes "Liebe" wurde mit dem Wiener Filmpreis in der Kategorie Spielfilm, Paul-Julien Roberts "Meine kleine Familie" in der Kategorie Dokumentarfilm ausgezeichnet. Der "Standard-Publikumspreis"“ ging an den experimentellen Dokumentarfilm "Leviathan", der Fipresci-Preis wurde Kenneth Lonergans "Margaret" zugesprochen und den MehrWERT Filmpreis der Erste Bank erhielt Tiziana Covis und Rainer Frimmels "Der Glanz des Tages".

Ein eigenes Flair verbreitet die Viennale, schon dadurch, dass sich das Festival nicht auf einen Platz konzentriert, sondern sich über altehrwürdige Kinos der Innenstadt verteilt. Während sich andere Festivals wie die Berlinale in Multiplex-Kinos oder in Locarno in Mehrzweckhallen abspielen, pendelt man in Wien zwischen dem 1893 als Theater eröffneten Metrokino, dem 1949 als Umbau eines Ausstellungssaales eröffneten Künstlerhauskino und dem 1960 errichteten Gartenbaukino.

Schon mehrmals von der Schließung bedroht war das Gartenbaukino, bei den Hauptabendvorstellungen der Viennale sind aber zumeist alle 763 Plätze besetzt. Das gilt freilich vor allem, wenn die Weltpremiere eines österreichischen Films wie Antonin Svobodas "The Strange Case of Wilhelm Reich" ansteht.

Ausgehend von einem Prozess gegen den Psychoanalytiker und Sexualforscher Wilhelm Reich im Jahre 1955 zeichnet Svoboda in Rückblenden die letzten zehn Lebensjahre Reichs, der 1939 in die USA emigriert war, nach. Man sieht den Landschaftsaufnahmen zwar nicht an, dass der Film nicht im Südwesten der USA, sondern in Österreich gedreht wurde, aber allzu brav erzählt Svoboda Szene um Szene nach. Das Bemühen um historische Genauigkeit und Faktentreue erweist sich gerade als Hemmschuh. Sovoboda will nämlich sowohl Einblick in die Lehre Reichs bieten wie auch seine Bespitzelung durch das FBI aufzeigen. Folge davon ist, dass in der Handlungsfülle keine Szene verdichtet wird, keine Figur gewinnt wirklich Profil, weil den Stars wie Klaus Maria Brandauer, Julia Jentsch und Birgit Minichmayr, deren englischen Dialoge zudem zum Teil hölzern wirken, zu wenig Raum zum Spiel gelassen wird. Ohne Spannungskurve plätschert so der Bilderbogen recht behäbig dahin und lebt allein von seinem interessanten Thema.

Ist dieses Biopic im Hauptabendprogramm des Fernsehen besser aufgehoben als im Kino, so verfügt Florian Flickers "Grenzgänger" über echte Kinoqualitäten. In Cinemascope inszeniert Flicker nach Karl Schönherrs Drama "Der Weibsteufel" eine Dreiecksgeschichte, die er in die österreichisch-slowakische Grenzregion des Jahres 2001 verlegt: Längst schon verdächtigt das Bundesheer, das die Grenze kontrolliert und illegale Grenzübertritte zu unterbinden versucht, Hans, der mit seiner Frau in den March-Thaya-Auen ein Ausflugsgasthaus betreibt, nebenbei als Schlepper zu arbeiten. Da man ihm aber das Handwerk nicht legen kann, setzt man einen Präsenzdiener auf Hans´ Frau an, doch der Bespitzelte durchschaut das Spiel schnell.

Geschickt entwickelt Flicker eingebettet in die weite Aulandschaft ein labiles Dreieck, bei dem abwechselnd jeder jeden ausnützt und verrät, spitzt die Situation immer wieder zu, lässt sie aber nie ganz eskalieren und sorgt durch die konzentrierte Erzählweise durchgängig für Spannung. Vertrauen und bauen kann Flicker, der mit "Grenzgänger" seinen ersten Spielfilm seit zwölf Jahren ("Der Überfall") vorlegt dabei auch auf das homogene und hervorragend aufeinander eingespielte Schauspielertrio Andreas Lust, Andrea Wenzl und Stefan Pohl, die sich weniger durch Worte als vielmehr durch Blicke und Gesten ausdrücken.