Totstell-Reflexe

Die Zeichnung ist das zentrale Ausdrucksmittel von Marc Bauer. 1975 in Genf geboren, ist der heute in Berlin lebende Künstler durch zahlreiche Ausstellungen mit seinen Bleistiftzeichnungen bekannt geworden. Diese können ebenso aus Serien kleinformatiger Skizzen und Textblättern bestehen wie ganze Wände bedecken. Der Künstler versteht es, seine Zeichnungen souverän in einen räumlichen Zusammenhang zu bringen, wie seine konzisen Präsentationen in den vergangenen Jahren, u. a. 2009 im FRAC Auvergne eindrücklich belegen.

Sein zeichnerisches Schaffen besticht durch eine seltene Eindringlichkeit des Strichs und der Haltung sowie eine Unmittelbarkeit jenseits eines traditionell expressiven Gestus. Und er eröffnet ungewohnte Blicke auf Alltag und Geschichte, wenn er etwa im Diskurs des Ungesprochenen (2007) der historisch verbürgten Begegnung von Martin Heidegger und Paul Celan im Schwarzwälder Todtnauberg nachspürt. Im Zentrum der St.Galler Ausstellung stehen Zeichnungsserien von Marc Bauer, die auf der Erkundung philosophischer Themen in Zusammenarbeit mit Christine Abbt, Philosophieprofessorin an der Universität Zürich, basieren.

Wie kaum ein anderer Künstler seiner Generation wagt Marc Bauer in seinem Schaffen die grosse übergreifende Verbindung philosophischer Grundkonstanten, Ergebnissen der psychologischen Forschung und eigenem Erleben. Damit ist sein Werk präzise positioniert zwischen kulturphilosophischen Reflexionen und existentieller Suche.

Die Psychologie kennt Totstellreflexe als Begriff des Überwältigungserlebens aus dem Feld posttraumatischer Belastungsstörungen PTBS. Es finden sich die Totstellreflexe aller vier Grundmotivationen gleichzeitig: Lähmung, Apathie, Dissoziation und Betäubung. Das Bild ist gepaart mit der Mobilisierung der schützenden Grundbewegung, die ebenfalls alle vier Grunddimensionen der Existenz überspannt: Vermeiden, Rückzug, auf Distanz gehen und provisorisches Engagement.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel widmete sich in seinem Hauptwerk "System der Wissenschaft, Erster Theil", die Phänomenologie des Geistes, 1807, in einem Kapitel dem Selbstbewusstsein. Die Rezeption dieses Abschnitts ist von besonderer Bedeutung, da es die dialektische Betrachtung von Herrschaft und Knechtschaft enthält und ein wesentlicher Ausgangspunkt für Marx’ Beschäftigung mit der Analyse der Klassengesellschaft in der bürgerlichen Gesellschaft war. Roland Wäspe

Marc Bauer. Totstell-Reflexe
2. Oktober 2010 bis 6. Februar 2011