Stadt Land Fluss - Fotografische Ortsuntersuchungen

Die Fotografinnen und Fotografen der Ausstellung – Iris Andraschek, Peter Garmusch, Gerhard Klocker, Anja Manfredi, Peter Schreiner und Herwig Turk – nähern sich mit ganz unterschiedlichen fotografischen Methoden einem spezifischen Ort an.

Die Fotografie dient seit der Erfindung des Mediums auch als wissenschaftliche Erkenntnismethode. So wurde bei Expeditionen in unbekanntes Terrain das Lichtbild zur visuellen Beweisführung eingesetzt. Fotografien von Städten, Ländern und Gewässern legten Zeugnis ab von der Welt und wurden zur Dokumentation (und Beurteilung) des Fremden herangezogen. Fotografie ist aber nicht nur Mittel und Möglichkeit, die Welt zu verstehen. Fotografien sind immer auch ein subjektiver und bewusst gesetzter Ausschnitt der Realität, sind Ausdruck der Wahrnehmung und damit einer persönlichen Annäherung an die Wirklichkeit – etwa an Stadt, Land oder Fluss.

Der Titel der Ausstellung lässt an das gleichnamige Wissens- und Wortspiel denken, bei dem möglichst schnell zu einem vorgegebenen Buchstaben eine Stadt, ein Land und ein Fluss niedergeschrieben werden muss. Es reicht das Wort, weitere Informationen zu den Orten sind nicht notwendig. Ganz im Gegensatz dazu setzen sich die Künstler:innen der Ausstellung eingehend und über einen längeren Zeitraum mit einem Ort auseinander. Angetrieben durch ein ausgeprägtes Interesse, zu verstehen und zu vermitteln, bringen die Künstler:innen vielschichtige fotografische Ortsuntersuchungen in die Ausstellung ein – ohne Anspruch auf Objektivität.

Die Trias Stadt, Land, Fluss ist zudem eine äußerst knappe, gleichwohl zutreffende Beschreibung der Landeshauptstadt Salzburg, wo die Ausstellung zuletzt gezeigt wurde. Auch auf die Vorarlberger Landeshauptstadt treffen sowohl die Zuschreibungen Stadt als auch Land gleichermaßen zu. Die ortsprägenden Gewässer sind hier die Bregenzer Ach und der Bodensee. Die Bedeutungshierarchie der Zuschreibungen bleibt jeweils Ansichtssache und eine Frage des Blickwinkels.

Iris Andraschek (geboren 1963 in Horn, lebt in Wien und Horn) porträtiert Menschen in ihren spezifischen Lebenskontexten: Sie hebt die Individualität der Dargestellten hervor, verortet und reflektiert diese aber zugleich in übergeordneten, etwa sozialen und ökonomischen Zusammenhängen.

Die Installation "Korridore/Übergangsräume" versammelt Gegenstände und Werkstoffe, wie man sie häufig in Hinterhöfen, Garagen oder Geräteschuppen am Land vorfindet. Zu wertvoll, um sie endgültig zu entsorgen, harren sie oft jahrelang ihrer Wiederverwendung. Solche Materialdepots, in denen sich neben Gerümpel auch Brauchbares, mitunter Kostbares findet, sind typisch für den ländlichen Raum, in Städten hingegen aufgrund des begrenzten Raumes eher selten. Sie bieten viele Möglichkeiten, zu reparieren und handwerklich tätig zu sein. Iris Andraschek greift dieses Motiv auf und gestaltet ihre Installation aus solcherart aufbewahrten und wiederverwerteten Holz- und Metallplatten und anderen Gegenständen.

Darin eingebettet zeigt die Künstlerin Fotografien aus ihrer Serie "Fragile Territorien/Chongqing", die 2017 in der 33 Millionen Einwohner:innen zählenden Metropole entstanden sind. Stadt, Land und Fluss spielen in den von Iris Andraschek dokumentierten Lebenssituationen eine zentrale Rolle. Durch den Bau der Drei-Schluchten-Talsperre im Jangtsekiang in China wurden in den vergangenen Jahren über eine Million Menschen zwangsumgesiedelt. Speziell Bäuerinnen und Bauern stellt dies vor enorme Schwierigkeiten, weil sie ihre Landwirtschaft nicht mehr im ertragreichen Schwemmland betreiben können. Viele entschlossen sich deshalb, ihren Kindern zu folgen, die mit der Aussicht auf eine gute Ausbildung und sichere Jobs nach Chongqing in von der Regierung bereitgestellte Wohnanlagen gezogen waren. In der Metropole betreiben viele nun eine neue Form urbaner Landwirtschaft, um sich selbst und ihre Familie zu versorgen oder auch für den Weiterverkauf. Die urbanen Bäuerinnen und Bauern finden ihre Anbauflächen unter Autobahnbrücken, an Straßenrändern, auf Baubrachen am Ufer des Jangtses oder auf den Dächern der Hochhäuser. Iris Andrascheks Bilder zeugen von der Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit der Menschen, aber auch von der Komplexität des Lebens und Überlebens vor dem Hintergrund einschneidend gewandelter kultureller, ökologischer und ökonomischer Bedingungen.

Die Straßenszenen, die der österreichische Künstler Peter Garmusch (geboren 1974 in Graz) in Kairo fotografierte, halten außergewöhnliche, teils bizarre oder geheimnisvolle, auf eine subtile Art witzige, eigensinnige Erscheinungen fest. Es sind parkende Autos unter textilen Abdeckungen – Zufallsskulpturen, wie Garmusch sie nennt. Auf seinen Streifzügen durch die ägyptische Metropole ist er ein aufmerksamer Beobachter ästhetischer Alltagsphänomene. In der verdichteten Vielfalt der Großstadt macht Peter Garmusch solch magische Objekte ausfindig und schält sie mittels Fotografie aus der Realität heraus.

Sein Blickwinkel monumentalisiert die Objekte und arbeitet die jeweiligen Charakteristiken der Stoffe und Formen heraus. In machen Bildern wirken die Autoskulpturen gespenstisch, scheinen mit der Farbe und Struktur der Straße oder der dahinterliegenden Hausfassade verwachsen. Ohne jegliche digitale Nachbearbeitung erzielt er durch die Fokussierung auf jene Stelle im Bildausschnitt, die das hellste Sonnenlicht aufweist, eine Verstärkung der dreidimensionalen Wirkung. Die wundersamen Alltagsskulpturen treten als Charaktere auf der Bühne der Stadt auf.

In Gerhard Klockers Fotoserie "Collective Memory" spielen zeitlose fotografische Stadt-, Land- und Flussansichten von berühmten Orten und Sehenswürdigkeiten die zentrale Rolle. Der Fotograf hat auf verschiedenen Reisen immer speziell jene Szenen und Objekte aufgenommen, die man als typische Motive von Postkarten oder Urlaubsfotos erkennt – die also einem kollektiven Fotogedächtnis angehören. Im Gegensatz zu dem Versuch, ein tausendfach fotografiertes Sujet neu und anders abzulichten, folgt Gerhard Klocker diesen oft gesehenen und viel fotografierten Motiven, mithin dem für Tourist:innen typischen Betrachten und Dokumentieren von Sehenswürdigkeiten durch die Kamera. Dieses verbreitete Verhaltensmuster lässt sich mit Robert Pfaller als eine Form der Interpassivität verstehen, wobei der Lustgewinn zuerst an die Kamera und in Folge an diejenigen delegiert wird, denen man die Fotos nach der Rückkehr zu Hause präsentiert. Die nostalgisch anmutende Farbigkeit, die Gerhard Klocker für seine Reisefotografien gewählt hat, erschwert eine zeitliche Einordnung und unterstreicht die sentimentale Stimmung. Der Kurator und Kunsthistoriker Peter Weiermair schrieb bei Erscheinen dieser Serie 2011: "Klocker beschäftigt sich in dieser Sammlung von Positionen, die er nachvollzogen hat, mit dem Begriff von Ort und Zeit, zwei Kategorien, die in der Photographie eine wesentliche Rolle spielen. Er hinterfrägt sie auf ironische und spielerische Weise."

Anja Manfredi (geboren 1978 in Lienz, lebt in Wien) hat einen persönlichen, familiären Bezug zu ihrem Untersuchungsgegenstand: Sie setzt sich mit der Südtiroler Siedlung in Osttirol auseinander, in der sie aufgewachsen ist und in der ihre Eltern auch heute noch leben. Anja Manfredis Großeltern waren sogenannte "Optante:innen" – nicht italienischsprechende Südtiroler:innen, die sich Anfang der 1940er-Jahre für die Umsiedlung ins Deutsche Reich und gegen den Verbleib in Italien entschieden hatten. Insgesamt waren es mehr als 200.000 Menschen, die sich für die Option entschieden und für die Wohnraum in eigens dafür errichteten Siedlungen geschaffen wurde. Anja Manfredis künstlerische Auseinandersetzung mit dem Ort ihrer Kindheit und Jugend erzählt von einer Zeit, in der manche Eigenschaften nicht offen gezeigt wurden, und Freiheit nicht selbstverständlich war. Ihr Werk ist zugleich eine persönliche Bestandsaufnahme und eine reflexive Auseinandersetzung mit der Siedlung. In den Fotografien des unmittelbaren Umfelds, der Wohn- und Gartenanlagen, in das auch Pflanzen und Tiere einbezogen sind, ist die atmosphärische Dimension der Erinnerung spürbar.

Über die Jahre hinweg hat Peter Schreiner (geboren 1980 in Hallein, lebt in Wien und Salzburg) auf seinen Streifzügen durch Wien seinen fotografischen Blick auf ein kleines schwarzes, nach unten zulaufendes Dreieck gerichtet. Einem Landvermesser gleich, hat Schreiner 360 Fotografien dieses merkwürdigen Symbols an Häusern, Wänden, Türen, Straßen und Mauern aufgenommen. Ob er ein Suchender oder Findender ist, ob er methodisch oder intuitiv vorgegangen ist, bleibt genauso im Unklaren wie die Bedeutung des Dreiecks selbst.

Mit dem Werk "The Black Triangle" setzt Peter Schreiner dem kuriosen kleinen Dreieck, das unterhalb der allgemeinen Wahrnehmungsschwelle existiert, ein fotografisches Denkmal und provoziert so auch eine Reflexion unserer eigenen Wahrnehmung.

Seit mehreren Jahren beschäftigt sich der österreichische Künstler Herwig Turk (geboren 1964 in St. Veit an der Glan, lebt in Wien) mit der Ausnahmelandschaft des Tagliamento. Der Tagliamento in der oberitalienischen Region Friaul gehört zu den ganz wenigen nicht regulierten Flüssen der Alpen. Das Flussbett ist charakterisiert durch weitläufige, mäandernde Kies- und Sandbänke, die sich je nach Jahreszeit durch das Wasser dynamisch verändern. Der Tagliamento ist ein außergewöhnliches Ökosystem und verfügt über eine hohe Diversität an Tier- und Pflanzenarten.

In seiner vielschichtigen und künstlerisch anspruchsvollen Auseinandersetzung mit dem Tagliamento stellt Herwig Turk die Flussgebiete als Orte mit unterschiedlicher Nutzung sowie vielfältigen kulturellen Zuschreibungen und Bewertungen vor. Anamnese einer Landschaft besteht aus unterschiedlichen Komponenten: Fotografien in Leuchtkästen, Planschränken und auf einem Paravent, Siebdrucksiebe und einer Vierkanal-Videoinstallation. Auf diese unterschiedlichen Träger mit ihrer technisch-wissenschaftlichen Anmutung hat der Künstler seine fotografischen Beobachtungen der Wildflusslandschaft facettenreich montiert. Turk entwirft eine Phänomenologie des Tagliamento: Er dokumentiert die geologischen Gegebenheiten und Veränderungen, etwa durch das Erdbeben von 1976, hält die ökonomische Verwertung der Rohstoffe Kies und Wasser fest, folgt den Spuren kriegerischer Auseinandersetzungen im Ersten Weltkrieg und beleuchtet das Thema des Naturschutzes etwa anhand ökologischer Forschungseinrichtungen vor Ort. Indem der Künstler den Fluss als dynamisches, komplexes System von geopolitischen Aktivitäten und Transformationen porträtiert, verhandelt er beispielhaft zentrale Facetten des Naturverständnisses in Mitteleuropa.

Stadt Land Fluss
Fotografische Ortsuntersuchungen
Iris Andraschek, Peter Garmusch, Gerhard Klocker, Anja Manfredi, Peter Schreiner und Herwig Turk

Erweiterte Eröffnung
Freitag, 4. Februar, 17 - 20 Uhr
Während der gesamten erweiterten Eröffnung führen Kuratorin Verena Kaspar-Eisert, Kunsthaus Wien, und die Künstler:innen durch die Ausstellung.

Ausstellungsdauer
5. Februar bis 17. März 2022
Di, Do 13–18 Uhr | Fr, Sa 11–16 Uhr

Eine Ausstellung in Kooperation mit Kunst im Traklhaus, Salzburg