Verfolgt man die weltweiten Nachrichten, scheinen Bedrohungen allgegenwärtig. Naturereignisse, Migrationsbewegungen und Cyberangriffe haben frühere, vor allem militärische Bedrohungsszenarien abgelöst und zu einer neuartigen Risikoeinschätzung geführt. Wie reagieren staatliche und private Akteure auf diese sich wandelnde Herausforderung? Wie gewährleisten sie die Sicherheit ihrer Bürger – dieses wertvolle Gut, das ebenso ein Grundbedürfnis wie ein Milliardengeschäft ist? Und wie viel Freiheit sind wir bereit, für unsere Sicherheit aufzugeben?
Die Schweiz gilt als eines der sichersten Länder der Welt und als ein Musterbeispiel für Effizienz. Die Frage, wie sie sich gegen alle Arten von Risiken, Gefahren und Bedrohungen abzusichern versucht, hat Salvatore Vitale (geb. 1986 in Palermo, in Lugano und Zürich lebend) zu einem visuellen Forschungsprojekt bewogen. Zwischen 2014 und 2018 hat er untersucht, wie Schutz- und Präventionssysteme unseren Alltag, unsere Verhaltensweisen und unser Denken durchdringen. Das Projekt reflektiert und verbildlicht die Herstellung von Sicherheit (und damit auch von Unsicherheit) durch Fotos, Texte und Datenvisualisierungen.
Als Salvatore Vitale 2005 in die Schweiz übersiedelte und sich in Lugano niederliess, war er überrascht, wie Fragen der Sicherheit hierzulande verhandelt und gehandhabt werden. Als das Schweizer Volk 2014 die Eidgenössische Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» guthiess, war er – selbst als Immigrant in diesem Land lebend – irritiert. Er verspürte die Notwendigkeit, das Phänomen der Sicherheit und seiner diskursiven und institutionellen Rahmenbedingungen zu erforschen. Worin bestehen die tiefer liegenden Motive einer politischen Debatte, bei der Identität, Ausgrenzung, Schutz und Sicherheit als Themen miteinander verschmelzen?
Sein daraus erwachsenes Langzeitprojekt «How to Secure a Country» versucht die scheinbar obsessive Beschäftigung mit Sicherheit sichtbar zu machen: die Vorkehrungen, Einstellungen, Infrastrukturen, Codes und Protokolle, die sowohl im individuellen Verhalten als auch in der politischen Diskussion zum Beispiel zu Themen wie Migration zu beobachten sind. Salvatore Vitales Untersuchung geht dabei vom institutionellen Netzwerk aus – Polizei, Militär, Zoll- und Migrationsbehörden, Wetterdienste, IT-Unternehmen sowie Forschungsstellen für Robotik und Künstliche Intelligenz. Das Ziel, die teilhabenden Akteure zu identifizieren, den Zugang zu ihnen zu erlangen und sie fotografisch zu dokumentieren, offenbarte sich jedoch rasch als Herausforderung. Denn nicht nur sind die Bedrohungen – reale oder wahrgenUnser Lehm ist der Kunz geweint"ommene – oft unsichtbar und schwer fassbar.
Auch die dagegen entwickelten Präventions- und Schutzschilde sind es. Oft handelt es sich dabei um standardisierte Handlungsabläufe und Wegleitungen, Organisationsmodelle und Netzwerke, die abstrakt, nüchtern und gesichtslos sind.Dennoch – so legt die fotografische Arbeit nahe – manfestiert sich die Essenz dieses Sicherheitsapparats als ästhetisch wahrnehmbare Disposition, die mit den Mitteln der Fotografie erforscht und vermittelt werden kann. Das Projekt interessiert sich so zum Beispiel für die Untersuchung von Fragen wie: Warum machen sich die Schweizer Streitkräfte Gedanken über das jährliche Sorgenbarometer? Wie funktioniert die integrierte Grenzverwaltung? Was hat das Réduit mit Bitcoin und Cyber-Sicherheit zu tun? Und was bedeutet Predictive Policing in der Polizeiarbeit?
Dank einer aktiven Zusammenarbeit mit verschiedenen Spezialisten und Forschern gelingt es Salvatore Vitale, die Komplexität der Schweizer Sicherheitsindustrie offenzulegen. Durch sie erhielt er Zugang zu Orten, die ansonsten abgeschottet sind. So vermag er die oftmals abstrakte Erzeugung von Sicherheit auf eine konkrete Weise erlebbar zu machen – seine Arbeit leistet eine Art Kartographierung dessen, was man als öffentlich-privaten Sicherheitskomplex der Schweiz bezeichnen könnte. Salvatore Vitales Vorhaben positioniert sich somit als zeitgemässer künstlerischer Beitrag zu einer Debatte in einer Gesellschaft, die ist mit einer wachsenden Bedrohung konfrontiert sieht. Mit seinem Werk schaltet er sich ebenso in eine gegenwärtige politische Debatte in der Schweiz ein, bei der es etwa um Schweizer Waffenexporte und die Privatsphäre der Bürger geht.
Dabei sind jedoch zwei Einschränkungen zu machen: Erstens kann (und will) das Projekt nicht von sich behaupten, dass es eine vollständige Studie aller Bestandteile des Schweizer Sicherheitskomplexes ist – Auslassungen waren notwendig. Das Projekt befasst sich weder mit der Justiz noch mit dem Strafvollzug. Andere Lücken – wie jene im Bereich der Geheimdienste oder Atomkraftwerke – sind die Folge fehlender Erlaubnis zu fotografieren. Zweitens ist das Projekt nicht als eine rein fotografisch-künstlerische Arbeit gedacht. Als Forschungsprojekt wird es von einem Buch begleitet, das die Fotografie mit verschiedenen Textformen und Datenvisualisierung kombiniert.
Und auch die Ausstellung geht weit über die «reine» Präsentation von Fotoarbeiten hinaus. So entsteht in der Fotostiftung Schweiz eine komplexe Informationsumgebung, die von den Besuchern mit unterschiedlichen Sinnen erfahrbar ist, bestehend aus Karten, Statistiken und Grafiken, einer interaktiven, Sensor-modulierten Audio-Installation sowie einer Video-Installation mit zwei Projektionen an Decke und Boden. Ferner wird präsentiert, wie sich ein Cyberangriff auf einen infizierten Rechner auswirkt. Durch die Einbindung mehrerer «Forschungstische» in den Ausstellungsparcours werden Onlinequellen wie Filmmaterial sowie Druckerzeugnisse zugänglich gemacht, die einen tiefer gehenden Einblick in das Thema gewähren.
Ungewöhnlich für eine Fotoausstellung ist auch, dass keine der Fotografien an einer Wand präsentiert wird, sondern auf eigens dafür hergestellten, im Raum verteilten Metallkonstruktionen. So entsteht ein narrativer Parcours, auf dem man die thematischen Kapitel als Cluster physisch erkunden und sinnlich erfahren kann. Sowohl die Gestaltung der Ständer, auf denen die Fotografien gezeigt werden, als auch das allgemeine Informationsdesign sind unter anderem inspiriert von der Ästhetik kommerzieller Sicherheitsmessen und wissenschaftlicher Bedienungsanleitungen im Bestreben, sich deren visuelle Register anzueignen und sie ins Bewusstsein zu heben.
Das Projekt versucht somit Sprach- und Bildpolitiken aufzudecken, wie sie im Kraftfeld des transnationalen Sicherheitssystems verwendet werden. Dieser Ansatz steht im Einklang mit Salvatore Vitales beklemmender Bildsprache: Vorrangig ist nicht ein investigativer Ansatz mit dem Ziel der Entlarvung, sondern das Bemühen, schwer fassbare gesellschaftliche Befindlichkeiten sowie die strukturelle Gewalt des Systems spürbar zu machen. Die Ausstellung ist dementsprechend als multiperspektivischer Denkraum und Aggregator konzipiert und erscheint als ein Wald aus Zeichen, eine urbane Landschaft aus fotografischen Bildern, eine selektive «Grand Tour» des Schweizer Sicherheitssystems, das man in globaler Hinsicht als Inbegriff nationaler und transnationaler Sicherheitssysteme betrachten kann. Sie fokussiert auf einige der relevantesten gesellschaftspolitischen und technologischen Themen unserer Zeit. Die Fotostiftung Schweiz präsentiert die erste umfassende Ausstellung dieses Werkkomplexes.
Salvatore Vitale. How to Secure a Country
23. Februar bis 26. Mai 2019
Vernissage: Fr 22. Februar 19, 18 Uhr