Renate Bertlmann - Fragile Obsessionen

Mit einem Schlag stand Renate Bertlmann 2019 auf der Biennale di Venezia im Rampenlicht. Doch bis dahin hatte die feministische Künstlerin im Lauf ihres Lebens bereits fünftausend Werke geschaffen. Im Jahr ihres achtzigsten Geburtstags widmet ihr das Belvedere die bislang umfassendste Retrospektive.

In den 1970er-Jahren hat Renate Bertlmann mit ihren Performances schonungslos klassische weibliche Rollenbilder dekonstruiert. Kompromisslos ist ihre Arbeit bis heute. Seit über fünf Jahrzehnten arbeitet die 1943 in Wien geborene österreichische Künstlerin obsessiv an ihrem Kosmos, zu dem Fotografien und Zeichnungen, Assemblagen, Skulpturen, Installationen, Performances, Filme und Videos gehören. Bertlmann erlangte erst spät internationale Aufmerksamkeit und war bis zu einer wichtigen Überblicksschau in der Vertikalen Galerie der "Sammlung Verbund" in Wien im Jahr 2016 zumeist nur im feministischen Kontext bekannt. Die parallel entstandene erste umfassende Publikation über ihr Werk, das damit aufkommende Interesse von Galerien und Institutionen an ihren Arbeiten und schließlich ihre Teilnahme an der 58. Biennale di Venezia 2019 – als erste weibliche Künstlerin, die den Österreichischen Pavillon allein bespielte – markieren ihren künstlerischen Durchbruch. Heute ist sie als eine der wesentlichen Protagonistinnen der österreichischen Feministischen Avantgarde anerkannt.

Renate Bertlmanns radikale, ironisch-provokative Arbeiten unterwandern gesellschaftliche Zuschreibungen und Stereotype von Geschlecht, Weiblichkeit und Männlichkeit. Sie adressieren dabei die Kampfzone des weiblichen Körpers ebenso wie Ambivalenzen von Lust und Schmerz, Begehren und Disziplinierung, Zärtlichkeit und Verwundbarkeit, die sich auch im Ausstellungstitel Fragile Obsessionen ausdrücken, so Chefkuratorin Luisa Ziaja.

Mithilfe einer eigenwilligen und faszinierenden Motiv-, Medien- und Materialwahl entwickelt Bertlmann bereits im Frühwerk ein charakteristisches künstlerisches Vokabular: Formen und Motive wie Phallus, Vulva und Brust, Braut und Bräutigam, Rollstuhl, Schnuller und Skalpellmesser werden zu Konstanten ihrer Auseinandersetzung mit männlicher Dominanz und spießbürgerlicher Moral. Güsse aus Naturlatex, Plexiglas in fluoreszierenden Farben und Skalpellmesser treffen auf Schnuller, Präservative und Godemichés. Konzeptuelle Schwarz-Weiß-Fotografien stehen neben glitzernden und beflitterten Arbeiten, Performances und großformatigen Installationen. Die Künstlerin bedient sich gleichermaßen konzeptueller wie popkultureller Ästhetiken, eignet sich Pornografie und Kitsch unter veränderten Vorzeichen an und stellt Bezüge zu Literatur und Film, Medizin, Religion und Spiritualität her.

Ende der 1970er-Jahre formuliert Bertlmann "amo ergo sum" (Ich liebe, also bin ich) als programmatischen Leitsatz ihres künstlerischen Werks. Im Sinne einer feministischen Aneignung – einer zentralen Strategie der Künstlerin – hält sie dem bekannten Diktum des Philosophen René Descartes "cogito ergo sum" (Ich denke, also bin ich) Emotion und Sinneswahrnehmung entgegen und betont anstelle einer logozentristischen Ausrichtung die ganzheitliche Erfahrung des Seins durch Körper, Geist und Seele. Zudem nimmt sie eine "trilogische" Einteilung ihres gesamten Œuvres in die drei miteinander verwobenen Bereiche Pornografie, Ironie und Utopie vor. In diesen Begriffen klingt Bertlmanns radikale Widerständigkeit gegen patriarchale Wertvorstellungen, aber auch ihre Freude an lustvollen Experimenten an.

Die Retrospektive im Belvedere 21 umfasst rund zweihundert Exponate von den späten 1960er-Jahren bis zur jüngsten künstlerischen Produktion in einer chronologischen Präsentation, die Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Brüche nachvollziehbar macht.

Renate Bertlmann. Fragile Obsessionen
Bis 3. März 2024