Real Surreal – Meisterwerke der Avantgarde-Fotografie

"Real Surreal", eine Ausstellung in Kooperation mit dem Kunstmuseum Wolfsburg, führt den Besucher durch die Bildwelt der Avantgarde-Fotografie zwischen 1920 und 1950. Die zentralen Themen der Ausstellung bilden das Neue Sehen in Deutschland, den Surrealismus in Paris und die Avantgarde in Prag. Zunächst sind in einem Prolog beispielhafte Fotografien aus dem 19. Jahrhundert zu sehen, welche die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Neuen Sehen aufzeigen.

Folgend lassen seltene Originalabzüge namhafter Fotografen, mit Porträts, Akt, Objekt, Architektur und Experimentelles die ganze Bandbreite und Vielschichtigkeit der Fotografie zwischen real und surreal neu entdecken. Das Spiel mit Licht und Schatten, sowie das Experimentieren mit ungewohnten Blickwinkeln berühren und bringen dem Betrachter diesen eigenwilligen Stil näher. Nebst den rund 220 Fotografien machen auch historische Fotobücher und Zeitschriften sowie seltene Künstlerbücher den neuen Blick erlebbar. Einige berühmte Filmbeispiele wie, "Un chien andalouse" von Louis Buñuel oder "Berliner Stilleben" von László Moholy-Nagy, verdeutlichen die fruchtbare Wechselbeziehung zwischen Avantgarde-Fotografie und dem Kino dieser Zeit.

Überlegungen zur bildlichen Aufklärung der Fotografie sind so alt wie die Fotografie selbst. Schon im 19. Jahrhundert stritt man darüber, ob die Fotografie durch die mechanische Wiedergabe der Wirklichkeit imstande sei, das Leben umfassender und gültiger darzustellen als etwa die Malerei. Nicht zuletzt aus der Reaktion auf die empfundenen Unzulänglichkeiten des Fotografischen entstand der sogenannte Piktorialismus, der die Fotografie nach den Regeln der Malerei ausrichtete, um ihr mehr künstlerische Kompetenz zu verleihen.

Um 1920 besann sich eine neue Generation internationaler Fotografen wieder auf die spezifischen Eigenschaften der fotografischen Mittel und entwickelte diese zu einer zeitgemässen Wirklichkeitsaneignung weiter. Das ungebrochene Fortschreiten der Technisierung in der modernen Gesellschaft hatte den Umgang mit der Fotografie verändert: Handliche Rollfilmkameras kamen in grosser Stückzahl auf den Markt. Die zunehmende Verwendung fotografischer Illustrationen in den Massenmedien und in der Werbung erhöhte die Nachfrage nach guten Fotografinnen und Fotografen. Sie veränderte auch die Sehgewohnheiten des Publikums, wodurch das Neue Sehen zum Ausdruck einer medial geprägten Wahrnehmung der Wirklichkeit wurde. Die Positionen waren vielseitig. Sie reichten von der exakten Aufzeichnung des Gesehenen in der Porträt- und Industriefotografie über die Wahl neuartiger Ausschnitte und Perspektiven am Bauhaus bis hin zur Fotomontage, zu technischen Experimenten wie Fotogramm und Solarisation sowie zum inszenierten Bild im Surrealismus.

Die Fotografen der Neuen Sachlichkeit wollten die Welt so zeigen, wie sie war. Die Fotografie war das "zuverlässige Werkzeug", das die sichtbaren Dinge der Welt, insbesondere die Erzeugnisse moderner Technik, objektiv wiedergab und insofern der subjektiven Wahrnehmung des menschlichen Auges überlegen war. Man sprach dem Fotoapparat die entscheidende Funktion zu, die menschliche Wahrnehmung technisch zu erweitern und das moderne Leben der Metropolen, Maschinen und der Gesellschaft adäquat darzustellen. Ungewohnte Ansichten und Perspektiven führten zu frappierenden Bildern. Während aus der Vogelperspektive Gebäude und Strassen zu Kompositionen aus Linien und Flächen wurden, konnte eine Aufnahme aus einem anderen Blickwinkel eine ungeahnte Dynamik erzeugen und die starke Vergrösserung eines Objektes zu geheimnisvollen Verfremdungen führen.

Die Surrealisten schliesslich erkannten ausgerechnet im "realistischen" Aufzeichnungsinstrument der Fotografie ein weiteres künstlerisches Mittel der "écriture automatique", welche man auch als "Gedankenfotografie" bezeichnet hatte. Unter der Oberfläche der sichtbaren Dinge sollte das Irrationale, Mystische und Widersprüchliche erkundet werden. Dokumentarisch arbeitende Fotografen wurden zu Inspiratoren der Bewegung. Eines der wichtigsten künstlerischen Mittel des Surrealismus, die kombinatorische Gestaltung, war nicht zuletzt in der Fotomontage besonders überzeugend umgesetzt, indem heterogene Bildteile neue, überraschende Sinnzusammenhänge eingingen. Die Collagen Karel Teiges haben wie Brassaïs Aufnahmen des nächtlichen Paris eine surreale Qualität, die in anderer Form auch die traumnahen Lichtabdrücke der Fotogramme Man Ray‘s in sich tragen.

Das Ziel der Verschmelzung von Traum und Wirklichkeit, wie es Breton in seinem ersten Manifest des Surrealismus postuliert hatte, strebten sowohl die inszenatorische Fotografie als auch die vielen fototechnischen Experimente mit Mehrfachbelichtungen, Negativabzügen und Solarisation an. Insgesamt konnte es so in der Fotografie des Neuen Sehens zu regelrechten "Kippbildern" kommen, die je nach realsurrealem Fotografen- und Betrachtungsstandpunkt als nüchtern objektive Wiedergabe des sichtbaren oder als imaginär subjektive Wirklichkeitsreflexion gelten können.


Publikation zur Ausstellung: "RealSurreal – Meisterwerke der Avantgarde-Fotografie. Das neue Sehen 1920–1950, Sammlung Siegert"; Wienand Verlag, (Hg. Kunstmuseum Wolfsburg), D, 256 S., sw, CHF 39. Erhältlich im Museumsshop und eShop

Real Surreal – Meisterwerke der Avantgarde-Fotografie
Das Neue Sehen 1920 – 1950. Sammlung Siegert
1. April bis 24. Juli 2016