Locarno 2009: Ein Festival der Weltpremieren

Beim 62. Filmfestival von Locarno (5. – 15.8.) geben nicht nur im Wettbewerb, sondern auch auf der Piazza Grande Newcomer den Ton an. Daneben kehren aber auch frühere Locarno-Besucher mit neuen Filmen an den Lago Maggiore zurück. Geballt ist dabei die Ladung an Weltpremieren und spannende Einblicke dürfte auch die dem Manga-Film gewidmete Retrospektive bieten.

Ganz überzeugen konnte das Programm des Filmfestivals von Locarno in den letzten Jahren nicht. Die echten Highlights – und von zwei bis drei Filmen, die wirklich herausragen, lebt letztlich jedes Festival - fehlten sowohl auf der Piazza Grande als auch im Wettbewerb. Unbestreitbar ist aber, dass Festivaldirektor Frédéric Maire solide Arbeit leistete und sich auch sehr darum bemühte dem Schweizer Film eine Plattform zu bieten. Letzteres kennzeichnet auch das heurige Programm. Jetzt schon darf man gespannt sein, ob diese Linie vom Nachfolger des zur Cinématheque suisse wechselnden Maire fortgesetzt wird. Denn der Franzose Olivier Père, der ab September das Amt Maires übernehmen wird, ist zwar ein ausgewiesener Kenner des Arthouse-Kinos und verfügt als bisheriger Leiter der "Quinzaine des realisateurs" von Cannes auch über Festivalerfahrung und die in diesem Bereich nötigen Beziehungen, scheint aber keinen direkten Bezug zur Schweiz und zum Schweizer Filmschaffen zu haben.

Deutlich gesteigert hat Maire heuer nochmals die Zahl der Weltpremieren. Dass das freilich auch heißt auf große Namen, die ihre neuen Filme zumeist lieber in den nur wenige Wochen nach Locarno beginnenden Festivals von Venedig oder Toronto präsentieren, weitgehend verzichten zu müssen, ist nicht zu übersehen. Eröffnet wird so auf der Piazza Grande mit der Marc Webbs romantischer Komödie "500 Days of Summer". Die starke Schweizer Präsenz dokumentiert sich bei diesen zehntägigen prächtigen Open-Air-Vorstellungen in der Premiere von Christoph Schaubs Komödie "Giulias Verschwinden", für die Martin Suter das Drehbuch schrieb, sowie in Mihály Györiks in den schweizerisch-italienischen Alpen spielendem "La valle delle ombre". Nicht zuletzt ein Zugeständnis an die zahlreichen deutschen Touristen ist alljährlich auch die Programmierung deutscher Filme auf der Piazza. Nach "Das Wunder von Bern", "Nichts als Gespenster" und "Nordwand" in den letzten Jahren werden heuer "Unter Bauern – Retter in der Nacht", in dem Ludi Boeken von einer jüdischen Familie erzählt, die während des Dritten Reichs drei Jahre von Bauern in Westfalen versteckt wurde, und Detlev Bucks "Same Same But Different" in diesem prestigeträchtigen Rahmen uraufgeführt. Das verschafft aber nicht nur diesen Filmen große Beachtung, sondern sorgt auch dafür, dass die deutschen Medien ausführlich(er) über das Festival berichten. Und ein Festival lebt nun einmal nicht zuletzt von der Öffentlichkeitswirkung.

Die beiden Pole beim schwierigen Spagat zwischen Kunst und Kommerz, die die Programmierung der Piazza immer darstellt, bilden wohl Nick Cassavetes´ Familiendrama "My Sister´s Keeper" und Amos Gitais Verfilmung seiner Bühneninszenierung von Josephus Flavius "Geschichte des Jüdischen Krieges für das heurige Theaterfestival von Avignon" ("La guerre des fils de la lumiere contre les fils de tenebres"). Und dazwischen dürften sich die Brüder Arnaud und Jean-Marie Larrieu bewegen, die in ihrer Komödie "Les derniers jours du monde" wohl wie zuletzt mit "Peindre ou faire l´amour" elegantes französisches Kino par excellence zu bieten versuchen.

Mediale Aufmerksamkeit erreicht man auch durch die Präsenz von Filmgrößen und die Verleihung diverser Ehrenpreise. So wird heuer der Amerikaner William Friedkin, der in den 70er Jahren mit "French Connection" und "The Exorcist" zum Starregisseur aufstieg, mit dem Ehrenleopard ausgezeichnet und die Produzentin Martine Marignac, die unter anderem Filme von Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Jean-Marie Straub und Otar Iosselliani produzierte, wird mit dem Raimondo Rezzonico Prize geehrt. Der Excellence Award wird schließlich dem italienischen Schauspieler Toni Servillo verliehen, der zuletzt in Matteo Garrones "Gomorra" als Mafiaboss und in Paolo Sorrentinos "Il Divo" als Giulio Andreotti brillierte.

Unter den 18 Wettbewerbsfilmen finden sich sieben Debüts. Wie auf der Piazza geben auch hier die Europäer den Ton an, während die USA nur mit einer Koproduktion vertreten sind. Gespannt sein darf man hier vor allem auf die neuen Filme von drei "Locarno-Bekannten". Der Japaner Masahiro Kobayashi kehrt, nachdem er mit dem formal radikalen "Ai no yokan - Rebirth" vor zwei Jahren den Goldenen Leoparden gewonnen hat, mit der Teenagergeschichte "Wakaranai - Where Are You?" zurück und der Kanadier Bernard Èmond schließt nach den konzentrierten und dichten "La Neuvaine" und "Contre toute expérance" mit "La donation" seine Trilogie über die drei göttlichen Tugenden ab. Der vom Theater kommende Franzose Eugène Green dagegen legt mit "A religiosa Portuguesa" eine Ode an den Fado und an Lissabon vor.

Offen für neue Erzählformen und Mischungen von Dokumentarischem und Fiktivem ist die Reihe "Cinéastes du present", in der unter anderem der Schweizer Richard Dindo seinen Film "The Marsdreamers" zeigt. Eine Erkundung des Lebens in einem Dorf in den schwedischen Wäldern ("Greetings from the Woods") findet sich hier ebenso wie ein Dokumentarfilm über das Leben im Gaza-Streifen ("Piombo fuso") oder das Porträt einer amerikanischen Familie aus der Arbeiterklasse ("October Country").

Viel Beachtung fand im Vorfeld schon die Retrospektive, die sich mit rund 30 Filmen dem japanischen Manga-Film widmet, aber auch die Reihe "Ici et ailleurs" mit mittellangen Werken der Japanerin Naomi Kawase ("Koma") oder des Philippinen Lav Diaz ("Butterflies have no memories") sollte nicht übersehen werden. Dazu kommt die "Semaine de la critique", die wiederum sieben formal und inhaltlich eigenwillige Dokumentarfilme präsentiert und zu deren 20-jährigem Bestehen zudem auf der Piazza eine musikalische Reise in die Welt des Musikproduzenten Manfred Eicher ("Sounds and Silence") gezeigt wird, sowie die "Appellation Suisse", bei der vor allem der in den Kinos noch nicht gestartete neue Film von Erich Langjahr und Silvia Haselbeck heraussticht ("Geburt").