Halbzeit bei der Leopardenjagd

Beim 64. Filmfestival von Locarno lassen sich bislang noch keine klaren Favoriten auf den Goldenen Leoparden ausmachen. Brandaktuell ist zwar "Hashoter – Policeman", der die gesellschaftliche Kluft in Israel anspricht, vermag aber doch nur teilweise zu überzeugen. Rundum mögen muss man dagegen Azazel Jacobs Außenseitergeschichte "Terri", bewegt sich aber doch allzu sehr in gewohnten Bahnen. Experimentierfreudiger ist da Mike Cahill, der in "Another Earth" einer Schuld-Sühne-Geschichte durch einen Science-Fiction-Hintergrund Vielschichtigkeit verleiht.

Brennende Aktualität gewinnt Nadav Lapids "Hashoter- Policeman" durch die Demonstrationen in Israel, auch wenn die größer werdende Kluft zwischen Reichen und Armen nur Auslöser der Handlung ist und nicht differenzierter geschildert wird.

Ungewohnt ist freilich, dass für einmal ein Film aus Israel nicht auf den israelisch-palästinenischen Konflikt blickt, sondern innere Spannungen thematisiert. Von diesen ist im ersten – und stärksten – Teil von "Hashoter" noch nichts zu spüren. Nah folgt hier Lapid einer Polizeitruppe, die für Terrorbekämpfung zuständig ist. Mit genauem Blick deckt er Männlichkeitsrituale und Machismo auf, wenn er ausführlich zeigt, wie sich die Polizisten bei der Begrüßung immer wieder gegenseitig abklopfen, ihren Körper präsentieren und trainieren oder bei einer Grillparty in freundschaftlichem Wettkampf die körperlichen Kräfte mit einer anderen Gruppe messen. Gleichzeitig zeigt Lapid seinen Protagonisten Yaron aber auch als zärtlichen Ehemann, der seine schwangere Frau liebevoll massiert und sich auf die Geburt des ersten Kindes freut.

Abrupt bricht Lapid diesen Erzählfaden nach etwa 45 Minuten ab und setzt neu ein mit einer Gruppe junger Erwachsener aus der israelischen Oberschicht, die einen Anschlag plant, bei dem sie auch auf die gesellschaftlichen Gegensätze aufmerksam machen wollen.

Vorherzusehen ist, dass in einem dritten Abschnitt die beiden Handlungsfäden bei einem Terrorakt gegen die israelische Elite zusammengeführt werden. Mit Überraschung müssen die Polizisten hier feststellen, dass sie für einmal nicht gegen Palästinenser, sondern gegen Israelis vorgehen müssen.

So überzeugend und dicht die Schilderung der Polizeitruppe im ersten Abschnitt ist, so deutlich fallen die anderen Teile dagegen ab. Dialoglastig und oberflächlich ist die sich an RAF-Filmen orientierende Schilderung der Terroristengruppe und deren Aktion ist schließlich so dilettantisch, dass ihr jede Glaubwürdigkeit fehlt: Schwer nachzuvollziehen, dass man sich mit Geiseln in einem Keller verschanzt, aus dem man wohl kaum mehr rauskommt.

Liegt die Stärke von "Hashoter" im ungewohnten Blick auf Israel, so besticht Azazel Jacobs "Terri" durch die liebevoll-warmherzige Erzählweise. Weder formal noch inhaltlich bietet dieser leise Film über einen schwer übergewichtigen Teenager, der elternlos mit seinem selbst pflegebedürftigen Onkel aufwächst, etwas Neues. Doch wie dieser in der Schule gemobbte Junge unterstützt von einem verständigen, selbst mit Problemen kämpfenden Vize-Direktor (John C. Reilly) langsam Lebensmut fasst und auf andere Außenseiter zugehen lernt, geht ans Herz. Auf Dramatisierung verzichtet Jacobs wohlweislich, konzentriert sich auf den ganz normalen Alltag und blickt liebevoll auf seine sehr eigenwilligen Figuren, wobei auch Momente schrägen bis absurden Humors nicht zu kurz kommen. Ganz in der Tradition von Thomas McCarthys "The Station Agent" und "The Visitor" steht dieser Highschool-Film der etwas anderen Art in dieser Menschenfreundlichkeit, doch ist trotz der runden Erzählweise und der hervorragenden Schauspieler nicht zu übersehen, dass Jacobs die ausgetretenen Bahnen nie verlässt und nie überrascht.

Das gelingt schon eher Mike Cahill, der in "Another Earth" eine Schuld-Sühne-Geschichte mit einer Science-Fiction-Ebene verknüpft: Mit 17 hat Rhoda unter Alkoholeinfluss und abgelenkt von der Nachricht über die Entdeckung eines spiegelbildlichen Planeten in direkter Nachbarschaft der Erde einen schweren Unfall verursacht, der eine schwangere Frau und ein Kind das Leben kostete. Nur der Ehemann überlebte schwer verletzt.

Vier Jahre später wird Rhoda aus der Haft entlassen, doch schwer wiegt die Schuld. Sie möchte sich beim Unfallopfer, das nie den Namen der Verantwortlichen in Erfahrung bringen konnte, entschuldigen, doch als sie dem zurückgezogen lebenden ehemaligen Professor und Komponisten gegenüber steht, fehlt ihr dazu der Mut. Vielmehr gibt sie sich als Putzfrau aus, die im Rahmen eines Testprogramms gratis Häuser reinigt.

Es bleibt nicht beim einmaligen Besuch und der Kontakt tut beiden sichtbar gut. Während der verwahrloste Komponist wieder aufblüht, fühlt sich auch Rhoda durch die Wirkung ihres Handelns erleichtert. So kommen sie sich näher, doch einmal muss der Zeitpunkt kommen, an dem die junge Frau ihre Schuld gestehen muss.

Durchgehend eingebettet wird diese schon oft im Kino erzählte Geschichte von Schuld und Sehnsucht nach Vergebung in den Kontext des parallelen Planeten, auf dem auch Doppelgänger der Menschen leben sollen. Nicht nur die Frage nach einer anderen Erde, sondern auch nach einem anderen Leben, das vielleicht gleich oder an einem zentralen Punkt anders verlaufen könnte wirft Cahill damit auf.

Ganz aufgehen mag die Mischung von Science-Fiction und menschlichem Drama nicht, aber durch einen eigenwilligen Soundtrack und eine teils eigenwillige Bildsprache verleiht Cahill "Another Earth" eine poetische Note, die überzeugend die Orientierungslosigkeit und Sehnsucht nach Harmonie vermittelt, und bietet zudem mit dem Blick auf die zweite Erde ein visuell starkes Bild, das zum Nachdenken anregt.