Literaturpassagen aus Klagenfurt

Eines vorweg: der diesjährige Bachmannpreisträger ist ein wahrhaft würdiger. Tijan Sila, geboren in Bosnien, überzeugte mit einem wunderbaren, berührenden autofiktionalen Text über seine kriegstraumatisierten Eltern.

Es gab Zeiten, in denen ich die Tage der deutschsprachigen Literatur nicht auslassen wollte, von Anfang bis Ende jede Lesung anhörte, eifrig mit Bleistift in der Hand, aufmerksam die Jurydiskussion verfolgte, mich ärgerte, wenn so manches Mitglied sich vor lauter Eigendarstellung und beifallheischender Ansagen am Text vorbei produzierte; ich aber auch sehr viel dabei lernte, aufgrund der im Endeffekt doch sehr kompetenten literaturwissenschaftlichen Behandlung und unmittelbaren öffentlichen Besprechung der Manuskripte.

Nach einigen Jahren Pause bin ich abermals dabei, und schon am ersten Vormittag scheinen sich all meine Befürchtungen zu erfüllen. Der frisch gekürte Juryvorsitzende Klaus Kastberger (Professor für neuere deutschsprachige Literatur am Franz-Nabl-Institut der Universität Graz und Leiter des Literaturhaus Graz) kommt viel zu vehement rüber und kann es wieder mal nicht akzeptieren, dass die Kolleginnen und Kollegen den Text der von ihm eingeladenen Autorin (Ulrike Haidacher) gar nicht für als so gut gelungen befinden. Er hätte sich im Interview mit 'Der Standard' im Vorfeld auch sparen können zu sagen, "dass es teils katastrophale Nominierungen von Mitjuroren gibt. Derartig grottenschlechte Texte, dass man sich fragt, wie kann es sein, dass jemand so etwas nominiert hat" … eine nicht adäquate allseitige Abwertung, die wohl nur ihn selbst disqualifiziert.

Diesmal sind eigentlich relativ viele sehr gute dabei. Am Nachmittag gleich der spätere Bachmannpreisträger Tijan Sila mit "Der Tag an dem meine Mutter verrückt wurde". Nominiert hat ihn Philipp Tingler, Philosoph und Schriftsteller aus Zürich. So beruhigend, dass bei den qualitätsvollen Texten die Diskussion dann doch einhellig, konstruktiv und aufschlussreich wird. Tingler überrascht mit klaren, fachkundigen Worten und hat seine früheren Provokationen und Polemiken nicht mehr nötig. 

Mit einem Video stellen sich die Lesenden am Anfang vor. Tijan Sila ist als Kriegsflüchtling nach Deutschland gekommen und Lehrer geworden. Sein Schulgebäude betrachtet er ganz pragmatisch und gelassen unter dem Aspekt der Eignung als Zufluchtsort in Kriegszeiten, das macht betroffen. Genauso wie sein in Sprache und literarischen Techniken außerordentlich starker Text, wie der Schweizer Thomas Strässle (studierte Germanistik, Philosophie sowie Musikwissenschaft in Zürich, Cambridge, Paris, hat zudem ein Konzertdiplom als Flötist) diesem bescheinigt, und es werde darin "immer wieder in Gleichnissen gesprochen, die niemals abstürzen". 

Ebenfalls auf Einladung von Philipp Tingler liest Denis Pfabe aus Bonn über "Die Möglichkeit einer Ordnung". In seinem Portrait fährt er auf dem Gabelstapler durch den Baumarkt. Der Protagonist in seiner Geschichte befindet sich ebenfalls im Baumarkt, mit einer langen Einkaufsliste, die in unzähligen Bestellzetteln eskaliert, wie auch die durchscheinende Tragik in der Familienkonstellation. Laura de Weck, (freie Dramatikerin, Literaturkritikerin, Kolumnistin, lebt in Hamburg) diagnostiziert, dass hier offenbar nicht nur verhandelt wird, ob es Gründe gebe, nicht heimzugehen, sondern man frage sich als Leser zuweilen, ob es dieses Heim überhaupt noch gebe. Angenehm zurückhaltend gibt sie ihren Einstand in der Jury, genauso fachlich fundiert Mara Delius aus Berlin (studierte Literaturwissenschaften und Philosophie in London, dann an der Stanford University, Kalifornien). 

Kastberger hält sich bei seiner Wortmeldung knapp: er sei nicht der richtige Leser für diesen Text. Dafür erfahren wir ausführlich über seine Befindlichkeiten an solchen Orten und dass er Baumärkte hasse. Er hasse übrigens auch den kleinen Prinzen, Harry Potter und überhaupt, wenn Gegenstände zu sprechen beginnen – damit behelligte er uns schon anlässlich einer vorhergehenden Lesung. Wiederholt etwas daneben steht Mithu Sanyal (Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin, Journalistin) und habe den Text laut Tingler wohl nicht verstanden. Begleitet von reichlichem Armgefuchtel vermag sie leider ihre Beurteilungen nicht wirklich auf den Punkt zu bringen und bleibt missverständlich. Denis Pfabe bekommt den Deutschlandfunk-Preis für diese zutiefst berührende Geschichte.

Die Wiener Literaturkritikerin und -vermittlerin Brigitte Schwens-Harrant hat Tamara Stajner aus Slowenien nominiert, die seit 2006 in Wien lebt, wo sie ihr Master-Studium im Konzertfach Viola abschloss. "Luft nach unten" ist der Titel für den erschütternden Brief an eine von ihrer Vergangenheit gezeichneten Mutter. Es kommt zum emotionalsten Moment bei den Bachmann-Tagen in Klagenfurt, wenn die Autorin die Fassung verliert und kaum zu Ende lesen kann. Sie gehört zum Favoritinnenkreis bei diesem Wettbewerb und gewinnt schlussendlich den Kelag-Preis. 

Am letzten Tag dann doch noch ein Erfolgserlebnis für den Jury-Vorsitzenden, er hat nämlich die Österreicherin Johanna Sebauer eingeladen, die mit einer Mediensatire die heutige Empörungsgesellschaft und anhand eines „Gurkerls“ die folgende Erregungs-Dynamik vorführt. Brilliant! da sind sich alle einig. Von der Jury bekommt sie dafür den 3-Sat-Preis zugesprochen, vom Publikum die meisten Stimmen. Ich habe auch für Johanna Sebauer gevotet, weil ich finde, dass sie als Stadtschreiberin – was mit dem Publikumspreis einhergeht – gut nach Klagenfurt passt. Ihren ersten 2023 veröffentlichen Roman „Nincshof“ werde ich demnächst lesen, wie auch alle Texte der 48. Tage der deutschsprachigen Literatur noch einmal in Ruhe, was an dieser Stelle wärmstens empfohlen sei. 

48. Tage der deutschsprachigen Literatur
vom 26. bis 30. Juni 2024 in Klagenfurt
Tijan Sila – Bachmannpreis 25.000 €
Denis Pfabe – Deutschlandfunk-Preis 12.500 €
Tamara Stajner – KELAG-Preis 10.000 €
Johanna Sebauer – 3sat-Preis 7.500 € und 
BKS Bank-Publikumspreis 7.000 € mit Stadtschreiberin-Stipendium