Kunstbiennale in Venedig diesmal anders

Zur Eröffnung der 60. Biennale d´Arte warf ich mich freudig in die sich auf die Giardini ergießenden Menschenströme, am nächsten Tag, im Arsenale, wurde die "early bird" belohnt. Kurator Adriano Pedrosa hat das Generalthema "Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere" ausgegeben: Fremdheit, Migration und Fragen nationaler Identität stehen für den brasilianischen Museumsdirektor im Vordergrund. Dies zieht Pedrosa im Arsenale und im zentralen Pavillon der Giardini konsequent durch: Queer, Ausgrenzungserfahrungen, Zugehörigkeit zu indigenen Volksgruppen und Autodidaktik waren die Kriterien für die Auswahl der Künstlerinnen und Künstler.

Die eindrucksvolle Corderie (317 Meter lang, 21 Meter breit und 12 Meter Traufenhöhe) gibt es seit 1303 am Arsenale und wurde als Produktionsstätte für Schiffsseile und Kabel 1580 von Antonio Da Ponte, Architekt der Rialtobrücke, mit imposantem Holzdach im Palladiumstil und einer durchlaufenden Doppelreihe gemauerter Säulen wieder aufgebaut. Seit 1980 ist sie Teil der Biennale, wo das jeweilige Thema behandelt wird. 

Bei dieser geballten Ladung Kunst kann ich mich doch nur treiben lassen, hängenbleiben, innehalten, die Bemühung Namen zu lesen wird gleich mal aufgegeben: noch nie gehört, schwer zu merken … Kiluanij Kia Henda aus Luanda, Hauptstadt von Angola, zeigt eine geometrische Ballade der Angst, eine Fotoserie, bei der die dort üblichen weiß gestrichenen Schutzgitter Hausausschnitte überlagern. Völlig gebannt bleib ich bei Bouchra Khalilis Installation "The Mapping Journey" stecken. Über einen Zeitraum von drei Jahren hat die französisch-marokkanische Künstlerin und Wissenschaftlerin den Geschichten von Flüchtlingen und Staatenlosen aus Afrika, dem Nahen Osten und Südasien zugehört, lässt sie diese oft jahrelange, gefährliche Reise nacherzählen und auf dem statischen Video einer Landkarte mit dicken Strichen einzeichnen.

Im Arsenale gibt es auch noch – wie in den Giardini die Pavillons – von den Ländern bespielte Ausstellungshallen, eine der großen von China, und nebenan, im Teil des Magazzino delle Cisterne – Italien. Ich komme gerade rechtzeitig zur Eröffnung, Minister etc. alle da! Draußen noch die Ansprachen, doch auf einmal bin ich drinnen. Absolut faszinierend. Die Riesenhalle ist gefüllt mit einem Labyrinth von Metallgerüststangen, und eingefügt, lose verteilt, längliche schmale Holzkörper – zu hören eine überirdische Klangkomposition. Es sind Orgelpfeifen, die durch eine überdimensionale Spieluhr gesteuert werden. In der Mitte befindet sich ein Becken, in dem die rotunde Welle auf und ab wallt und die Betrachtenden in eine Art Trancezustand verfallen lässt. Massimo Bartolini gibt seiner vielschichtigen Installation einen doppeldeutigen Titel: "Due qui/To Hear" – ins Englische übersetzt "two here" und das klingt wie "to hear" … Zu-hören ist eine Form von Achtsamkeit. Diese komplexe Kunstinstallation ist schon allein den Besuch im Arsenale wert!

Die Länderpavillons in den Giardini

Wie schon angedeutet, ist in den Giardini – wo die Nationen zum vorgegebenen Thema ihre Beiträge in den eigenen Pavillons gestalten – die beste Strategie, einfach mitschwimmen im Strom und lange Ansteh-Schlangen meiden. Zum Beispiel beim Deutschen Pavillon, wo diese sich einmal rundherumwickelt, der Haupteingang ist mit turmhohem Erdwall zugeschüttet. Bei den Schweizern schau ich eine Stunde nach der Eröffnung vorbei … schrill, irritierend, doch durchaus fesselnd. Anna Jermolaewas Beitrag für den Österreich-Pavillon fügt sich hervorragend in das Motto "Fremde überall" ein. Die fünf Arbeiten sind gut kommunizierbar und lassen die Architektur von Josef Hoffmann (und Robert Kramreiter) genauso klar wirken: Pflanzenarrangements, die sich auf meist friedliche Volksaufstände beziehen, für die bestimmte Farben und Pflanzen als Symbole oder Bezeichnungen dienten; im gegenüberliegenden Hauptraum proben auf der Leiwand die ukrainische Choreografin Oksana Serheieva und ihre Tänzerinnen Schwanensee – für den kommenden Regimewechsel in Russland, denn in Zeiten politischer Umbrüche strahlte das russische Fernsehen früher in Dauerschleife Tschaikowskis berühmtes Ballett aus; im Innenhof stehen sechs Originaltelefonzellen aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen (siehe auch kultur online)

Im japanischen Pavillon, moduliertes Dröhnen: Bei Zersetzung von Früchten werden Geräusche und Licht erzeugt, indem die eingeführten Elektroden Feuchtigkeit in elektrische Signale umwandeln. Koreas Bauwerk ist leer, am Ende der Raumsequenz steht eine Bronzefigur, die angekündigten Duftspuren haben sich wohl verflüchtigt(?), dafür ist die Dachterrasse offen. Die Nordischen Länder haben ihren Pavillon in Samischen umbenannt. Ich bin so beeindruckt von der räumlichen Erweiterung des ohnehin transparenten Gebäudes durch ein dichtes, nach außen wachsendes Bambusgerüst, dass ich die dramatische Geschichte einer epischen Suche auf See und die existenziellen Auswirkungen von Vertreibung und Zugehörigkeit übersehe, die schönen Textilien bzw. Gewänder sind mir schon aufgefallen. Mit kräftigen Farben tritt die USA auf. Jeffrey Gibson orientiert sich an der amerikanischen, indigenen und queeren Geschichte und verweist mit imponierenden Multimedia-Skulpturen und dechiffrierbaren Wandgemälden auf populäre Subkulturen, Literatur und globale künstlerische Traditionen. 

Aber nicht nur für die Kernzonen der Kunstbiennale lohnt es sich in Venedig Zeit zu nehmen, an jeder Ecke überbieten sich die Museen und Galerien mit hervorragenden Programmen: Den Palazzo Grassi sollte man nie auslassen, diesmal mit der in Addis Abeba geborenen US-amerikanischen Künstlerin Julie Mehretu. Nahe der Ponte del´ Accademia präsentiert das PinchukArtCentre als offizielle Biennale-Begleitausstellung "From Ukraine: Dare to Dream – Wenn die Welt in ständiger Angst ist" im Palazzo Contarini Polignac. Oder im Palazzo Cini, dort trifft man auf die Österreicherin Martha Jungwirth mit "Heart of Darkness" – und ich zufälliger Weise auf den Bundespräsidenten und seine Gattin …

Foreigners Everywhere | La Biennale Venezia
20. April bis 24. November 2024