Kunst oder was?

In der psychiatrischen Klinik Münsterlingen liegen in einem Archivraum tausende von Zeichnungen, Bilder und Objekte, die im Lauf therapeutischer Prozesse entstanden sind. Die ältesten Arbeiten stammen noch aus der legendären Kreuzlinger Privatklinik Bellevue, die 1980 geschlossen wurde. In der Ausstellung "Kunst oder was?" wird eine Auswahl aus dieser bis anhin noch nie gezeigten Bilderwelt vorgestellt, verbunden mit der Frage, wo die Grenze zwischen Kunstwerk und therapeutischem Material gezogen werden soll.

Das Kunstmuseum Thurgau sammelt seit Jahrzehnten Aussenseiterkunst. Ausgangspunkt dieser Sammlungstätigkeit waren die aussergewöhnlichen Bilder des naiven Malers Adolf Dietrich, der als Autodidakt bis heute eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Kunst geblieben ist. Werke weiterer namhafter Künstler wie André Bauchant, Josef Wittlich oder Hans Krüsi bilden heute eine einzigartige Sammlung, die das Museum europaweit als ein wichtiges Kompetenzzentrum für Aussenseiterkunst auszeichnet.

"Aussenseiterkunst" ist indes ein umstrittener und auch missverständlicher Begriff. Oft wird bemängelt, dass die Vorstellung des "Aussenseiters" einen abwertenden Beiklang habe. Und wer bestimmt überhaupt, was ein Aussenseiter ist? Allerdings hat es im letzten Jahrhundert immer wieder Persönlichkeiten gegeben, die ausserhalb von Konventionen und meist ohne jede künstlerische Ausbildung hochgeschätzte Werke schufen. Werke von Henri Rousseau oder Adolf Wölfli werden heute wie selbstverständlich in wichtigen Ausstellungen der etablierten Kunst gezeigt.

Parallel zur Aufmerksamkeit der Kunstszene für Aussenseiterkunst entwickelten sich in psychiatrischen Kliniken Therapiemethoden, die mit künstlerischen Mitteln arbeiten. Was in der Alltagssprache gemeinhin "Kunsttherapie" genannt wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein breites Feld verschiedenster Möglichkeiten des Einsatzes bildnerischer Mittel in Therapien, das vom einfachen Malen und Zeichnen bis hin zur umfassenden Gestaltungstherapie mit Musik und Theater reicht - immer mit dem Ziel, Menschen zu helfen.

Auch im Kanton Thurgau kamen kunsttherapeutische Methoden früh zu Anwendung. Schon in der berühmten Sammlung Prinzhorn, die kurz nach dem 1. Weltkrieg zusammengestellt wurde, finden sich Beispiele aus der legendären Kreuzlinger Privatklinik Bellevue der Familie Binswanger. Und im Archiv der psychiatrischen Klinik Münsterlingen liegen tausende von Zeichnungen, Bildern und Objekten, die seit den 1960er Jahren von der vielfältigen Therapiearbeit mit bildnerischen Mitteln zeugen.

Allerdings ist längst nicht jedes Bild, das während einer Therapie entsteht, ein Kunstwerk. Die Ausstellung "Kunst oder was?" erforscht die Beziehung zwischen Kunst und Therapie und fragt danach, ob die besondere Emotionalität, die Menschen in der Psychiatrie oft bestimmt, ausreicht, um aus einer Zeichnung ein Kunstwerk zu machen. Anhand einer Auswahl von Bildern und Objekten aus dem bis anhin noch nie gezeigten Archiv von Münsterlingen wird der Grenze zwischen Kunstwerk und therapeutischem Material nachgespürt.


Zur Ausstellung erscheint im Januar 2016 eine Publikation mit Texten von Gerhard Dammann, Christiane Jeckelmann, Markus Landert, Thomas Meng und Rebekka Ray. Ausstellung und Publikation entstehen in enger Zusammenarbeit des Kunstmuseums Thurgau mit der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, die im Jahr 2015 ihren 175. Gründungstag feiert.

Kunst oder was?
Bildnerisches Gestalten im Spannungsfeld von Therapie und Kunst
13. September 2015 bis 16. Mai 2016