Neu einstudiert gelang die Wiederaufnahme Romeo Castelluccis Monumentalinszenierung des Mozart´schen Don Giovanni von 2021 bei den Salzburger Festspielen, unter der musikalischen Leitung des genialen Teodor Currentzis, noch atemberaubender und feinsinniger.
Es beginnt in einem Kirchenraum, der sogleich demontiert wird – Kirchenbänke, Kreuz, Gemälde. Ein Ziegenbock durchquert den entweihten Raum, der zum Hauptquartier Don Giovannis wird. Lassen wir Castelllucci interpretieren: "Eine erkennbare Architektur wird von Mal zu Mal mit Bedeutung aufgeladen – durch eine präzise Dramaturgie aus angemessen und unangemessenen Objekten, die herabfallen oder die auftauchen und sich auflösen. Es ist, als würden wir dem Spiel eines Kindes beiwohnen, das bestrebt ist, sein Spielzeug zu zerstören." Mit lautem Knall fallen Basketbälle vom Bühnenhimmel und springen in alle Richtungen, eine Limousine hängt plötzlich bedrohlich im Raum, die Scheinwerfer knapp über den Boden, dann kracht ein Flügel herab, auf dem Fragment begleitet Don Giovanni sein nachdenkliches Rezitativ (einfühlsam am Hammerklavier, Maria Shabashova).
"Don Giovanni agiert wie eine Kraft, die diabolisch ist: die zerteilt, die Spaltung erzeugt. Er erscheint, bahnt sich seinen Weg und trennt, unterbricht, stößt, löst Chaos aus, zerbricht die Kraftverhältnisse, die bewährten Ordnungen, die Paare." Für Castellucci ist er ständig auf der Flucht, vor der Welt, der Gesellschaft, vor sich selbst, und reißt dabei alle ins Verderben. "Doch interessanterweise merken wir, dass diese Art von Chaos, von Turbulenz, ein Prinzip ist, das Leben hervorbringt, und zwar deshalb, weil Don Giovanni uns das Feld des Begehrens öffnet."
Don Giovanni (elegant und überzeugend, der italienische Bariton Davide Luciano) findet in Leporello (der amerikanische Bassbariton Kyle Ketelsen) quasi seinen Doppelgänger, was ja im zweiten Akt auch bei der Täuschung der dadurch zutiefst gedemütigten Donna Elvira Programm ist. Doch zuerst eröffnet Leporello der aufgebrachten, verlassenen Donna Elvira (die italienische Sopranistin Federica Lombardi steht authentisch und stark ihre Frau) die Liste der Verflossenen seines Herrn (Madamina, il catalogo è questo). Ein Kopierer wird herangerollt, ein zweiter kommt von oben, 2065 Exemplare sprengen offensichtlich den Rahmen.
Drei Frauen stehen in der Oper für drei verschiedene Gefühlsuniversen: Donna Anna (die lyrische Sopranistin Nadezhda Pavlova, eine der aufregendsten Sängerinnen ihrer Generation!) ist von edler Herkunft und verkörpert das schwer zu erreichende höchste Objekt des Begehrens. Don Giovanni hat sie geschändet (ein Puppenspiel verdeutlicht die dramatischen Szenen einer Vergewaltigung), ihren Vater, den Commendatore (der russische Bass Dmitry Ulyanov), getötet. Donna Anna fällt plötzlich wie Schuppen von den Augen (Or sai chi l’onore) wer der Missetäter ist. Dies offenbart sie höchst traumatisiert ihrem beflissenen Begleiter. Don Ottavio (Julian Prégardien, gerade erst als Evangelist in der Matthäus-Passion gefeiert) ist der Antiheld und irgendwie immer fehl am Platz mit seinen unerfüllbaren Schwüren und Vorhaben. Mit absurden und in jeder Szene wechselnden Outfits und Accessoires (der Zwergpudel wandelt sich unmerklich in einen Königspudel; fahnenschwingend als Harlekin; beim Maskenball mit Federboa und Brimborium) gibt er sich wahnsinnig viel Mühe Donna Anna zu beeindrucken.
Und dann noch Zerlina (wunderbar, die libanesisch-russische Sopranistin Anna El-Khashem), ein Bauernmädchen, das an ihrem Hochzeitstag zum Objekt der Begierde wird. Die schwarze Kutsche fährt vor (herab), der Verführer umgarnt (mit roten Seilen) die Braut (Là ci darem la mano), in Zerlinas Sinnlichkeit wird die Ambivalenz deutlich (vorrei e non vorrei), sie liebäugelt mit dem vermeintlichen gesellschaftlichen Aufstieg. Die Eifersucht ihres Bräutigams Masetto (dem Schweizer Bariton Ruben Drole passt die Rolle hervorragend) ist wohl nicht ganz unbegründet (kaum wird das Versteck Masettos gelüftet, läuft eine Ratte über die Bühne, damit sind auch die drei im Programmheft angeführten Tierbetreuerinnen zugeordnet …).
Don Giovanni ist unfähig, die Frauen in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen. Für den zweiten Akt bringt Castellucci über hundert Frauen aus Salzburg auf die Bühne, die Liste Leporellos bekommt eindrucksvolle Körperlichkeit. Es entstehen wirkmächtige Bilder „wie das Feld des Begehrens allmählich eine absorbierende, einverleibende Kraft entwickelt. Das polare Schema von Don Giovanni als Jäger und den Frauen als Gejagten wird umgekehrt“. Und es endet (in klirrend erstarrter reinweißer Reduktion), wie es enden muss, der Komtur kehrt als Phantom zurück, mit dem letzten „No“ wiedersagt Don Giovanni seiner Läuterung und verschwindet.
Atemberaubend auch, was Teodor Currentzis in der musikalischen Ausgestaltung (diesmal mit seinem Utopia Orchestra und Utopia Choir) hervorzubringen vermag. Bei diesem, schon durch das Geschehen auf der Bühne visuellen Feuerwerk der Sinneseindrücke, wird die Steigerung des Opernerlebnisses durch solche Interpretation Mozart´scher Musik vollkommen. Und wenn dann noch bei Don Giovannis Champagnerarie unvermittelt das gesamte Orchester mit dem expressiven Dirigenten Teodor Currentzis mitten in die feiernde Gesellschaft hochfährt … grandios! Frenetischer Applaus. Standing Ovations.
Don Giovanni
Wolfgang Amadeus Mozart
Dramma giocoso in zwei Akten KV 527 (1787)
Libretto von Lorenzo Da Ponte
Teodor Currentzis – Musikalische Leitung
Romeo Castellucci – Regie, Bühne, Kostüme und Licht
Cindy Van Acker – Choreografie
Piersandra Di Matteo – Dramaturgie
Davide Luciano – Don Giovanni
Dmitry Ulyanov – Il Commendatore
Nadezhda Pavlova – Donna Anna
Julian Prégardien – Don Ottavio
Federica Lombardi – Donna Elvira
Kyle Ketelsen – Leporello
Ruben Drole – Masetto
Anna El-Khashem – Zerlina
Utopia Choir
Herren des Salzburger Bachchors
Utopia Orchestra
Maria Shabashova – Continuo Hammerklavier
Alexander Prozorov – Continuo Violoncelle
Yavor Genov – Continuo Laute, Gitarre
Julia Zimina – Mandoline