Atemberaubend. Die Matthäus-Passion unter Currentzis bei den Salzburger Festspielen

Ein sinnliches, nachdenkliches Hineinhören und -denken zum Auftakt der Salzburger Festspiele stellt seit einigen Jahren die "Ouverture spirituelle" dar. Mit einer exzellenten Matthäus-Passion bereiteten Teodor Currentzis und seine Utopia Ensembles (Chor und Orchester) ein magisches Klangerlebnis. Innig, zerbrechlich, dramatisch, musikalisch perfekt werden die letzten Tage von Jesus Christus nach dem Matthäus-Evangelium geschildert. Dieses Oratorium übertrifft in Länge und Besetzung mit Doppelchor und zwei Orchestern alle anderen Werke Bachs, und Currentzis erzählt mit hochkarätigen Solistinnen und Solisten eine werkgetreue, pure, tiefergreifende Leidensgeschichte.

Extrem schwingend beginnt das überwältigende Eingangsstück, in dem Chor I und II von Anfang an in Dialog treten, sehr gut nachvollziehbar übrigens auch in der Aufstellung der großartigen Sängerinnen und Sänger aus aller Welt des Utopia Festivalensembles. Currentzis hat eine klare Vorstellung wie sich das monumentale dramatisch-epische Werk entfalten soll, dies vermittelt er mit seinen ausladenden, formenden Bewegungen ebenso dem Publikum. 

Der Bibeltext wird in den Rezitativen vor allem vom Evangelisten verkündet. Julian Prégardien macht das leidenschaftlich, ausdrucksstark (und auswendig), einer spannenden Dramaturgie folgend, wenn er unmittelbar hervortritt. Genauso wie der gefeierte österreichische Bariton Florian Bösch als Jesu, der würdig auf der einen Seite sein Wort erhebt. Mit Sopran – Dorothee Mields kann kurzfristig und ebenbrütig für Regula Mühlemann einspringen – und der wunderbaren Altistin Wiebke Lehmkuhl sowie mit dem Münchner Bariton Matthias Winckhler für die Basspartien kommt Bewegung in die Szenerie, wenn sie bei ihren Einsätzen langsam zu den Pulten schreiten. Herzergreifend erklingt "Ich will bei meinem Jesu wachen" vom Tenor David Fischer, in zarten Tönen begleitet von der Oboistin, die ebenfalls aufgestanden ist. In den freien Dichtungen der Accompagnato-Rezitative, Arien und Chöre wird das Geschehene erklärt, theologisch gedeutet und verinnerlicht. Im zweiten Teil setzt der Dirigent den Countertenor Andrey Nemzer für die Alt-Arie "Erbarme dich, Mein Gott, …" ein, dazu tritt das Geigen-Solo in den Vordergrund … eine andere Klangfarbe, entrückt, berückend.

Kirchenliedtexte verwendet Bach in den Choralsätzen, die der Gemeinde als zusammenfassende Bestätigung und Antwort dienen: "Oh Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn …", in überirdischer Stille gesungen, andächtig, das Licht gedämpft, und dann die Wiederholung beider Strophen, aus dem Off, ganz, ganz leise … Currentzis spannt den Bogen ins Unermessliche … alle halten den Atem an, kein Räuspern, Husten, Schlucken! Die letzten Worte hat Bach subtil im Rezitativ dem Evangelisten zugesprochen: "Aber Jesus schrie abermal laut und verschied", und wenn wieder diese innige, jeder Kirchgängerin bekannte Melodie erklingt zu "Wenn ich einmal soll scheiden", ist es dunkel, fern schlägt eine Totenglocke.

Solche Inszenierung macht das in sich geschlossene Bach´sche Gesamtkunstwerk zum biblischen Passionsgeschehen vollkommen. Und wenn der letzte Ton verklungen ist, bringt es Teodor Currentzis ein weiteres Mal zustande: absolute minutenlange Stille … und schlussendlich frenetischer Applaus und innerliche Dankbarkeit für dieses Erlebnis.

J. S. Bach – Matthäus-Passion
Ouverture spirituell zu den Salzburger Festspielen 2024

Teodor Currentzis
Utopia Chor und Orchester

Julian Prégardien, Evangelist 
Florian Boesch, Jesus 
Dorothee Mields, Sopran 
Wiebke Lehmkuhl, Alt 
Andrey Nemzer, Countertenor 
David Fischer, Tenor 
Matthias Winckhler, Bass