Dóra Maurer - Minimal Movements, Shifts, 1970–2020

Das Museum Haus Konstruktiv widmet der Ungarin Dóra Maurer die erste museale Einzelausstellung in der Schweiz. Die retrospektive Einzelschau, die in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin realisiert wurde, vereint Druckgrafiken, Fotografien, Filme und Malereien, die zwischen 1970 und 2020 entstanden sind. Das OEuvre Maurers ist vielgestaltig, zeichnet sich aber in seiner Gesamtheit durch eine konzeptuelle Herangehensweise aus, die Prozesse der Bewegung, Verschiebung und Wahrnehmung ebenso spielerisch wie systematisch untersucht.

Die Überblicksschau in Zürich ist gewissermassen ein Heimspiel für Dóra Maurer: 1937 in Budapest geboren, reist sie bereits im Alter von neun Jahren und dann noch einmal als Elfjährige mit den vom Roten Kreuz organisierten Kinderzügen in die Schweiz, um sich für jeweils drei Monate von den Strapazen der Kriegszeit zu erholen. Diese Erfahrungen hätten sie, so berichtet die Künstlerin, nachhaltig geprägt. Ihre künstlerische Laufbahn beginnt Maurer an der Ungarischen Akademie der Bildenden Künste in Budapest, wo sie von 1955 bis 1961 zuerst Malerei, später Druckgrafik studiert. Insbesondere der Besuch der Grafikklasse erlaubt es ihr, parallel zu dem von der Akademie favorisierten Sozialistischen Realismus freier zu arbeiten und mit neuen Techniken zu experimentieren. Dank eines Arbeitsstipendiums kommt sie 1967 nach Wien, wo sie den emigrierten ungarischen Künstler und Architekten Tibor Gáyor trifft, ihren späteren Ehemann. Die Heirat ermöglicht es ihr, problemlos zwischen Budapest und Wien zu pendeln. Ende der 1960er-Jahre knüpft sie Kontakte mit Künstler_innen, Dichter_innen und Musiker_innen, die sich ausserhalb der offiziellen Kulturpolitik Ungarns für neuartige künstlerische Praktiken einsetzen. Gemeinsam organisieren sie Ausstellungen und progressive Workshops. Seither gilt Dóra Maurer als eine der wichtigsten und unabhängigsten Kunstschaffenden in der ungarischen Kunstszene. Mit ihrem Wirken als Professorin an der Akademie der Bildenden Künste in Budapest, als Gründungsmitglied und Präsidentin der Open Structures Art Society (OSAS), Budapest, und als freie Kuratorin hat sie noch heute eine Vorbildfunktion für viele jüngere Kunstschaffende in Ungarn.

Im Museum Haus Konstruktiv erstreckt sich die vornehmlich chronologisch angelegte Retrospektive über zwei Etagen. Sie beginnt in der Passerelle des vierten Stocks mit einer 1972 entstandenen Arbeit aus der Serie "Structure of a Thesis", die als Prolog zur Schau gelesen werden kann. In weissen Buchstabenreihen auf schwarzem Grund sind einzelne Lettern durch ein weisses Liniengefüge miteinander verbunden; Anfang, Ende und Leserichtung sind gekennzeichnet. Folgt man nun der Linie von Buchstabe zu Buchstabe und reiht die Schriftzeichen aneinander, so ergibt sich die These: "The Only Way of Arts Evolution: to Realize Every Third Idea". Abgesehen von der humorvoll-hintersinnigen Aussage transportiert die Arbeit einen wesentlichen Grundsatz Dóra Maurers: Im Fokus ihres Schaffens steht weniger das vollendete Werk als vielmehr die prozesshafte Sichtbarmachung von Erkenntnisvorgängen.

Der erste Raum der Ausstellung vereint Arbeiten aus der ersten Hälfte der 1970er-Jahre. Zu den frühesten Exponaten zählen die sogenannten "Pedotypien". Sie entstanden, indem verschiedene Personen durch den einfachen Akt des Gehens Spuren auf dem jeweiligen Grund hinterliessen. Der fünfteiligen Fotoserie "KVs 1st of May Parade on Artificial Ground" (1971) ist zusätzlich eine politische Dimension eingeschrieben: Abgelichtet sind die Beine von Vera Komarik, einem jungen Mädchen, das in einem Innenraum auf einer teilweise mit zerknüllten Zeitungen belegten Platte im Kreis geht – solidarisch mit der am 1. Mai auf den Strassen vorwärts marschierenden Arbeiterschaft, nur eben allein und im Privaten. Ebenfalls eine politische Konnotation hat die Fotoarbeit "What Can One Do with a Paving Stone?" (1971), in der Dóra Maurer selbst in verschiedenen Aktionen mit einem Pflasterstein fotografisch festgehalten ist – etwa wie sie ihn liebkost, ihn abwäscht oder auf ihm ein Feuer entfacht. Diese unspektakulären Handlungen können als friedvoller Gegenentwurf zu jenen Taten gelesen werden, in denen der Pflasterstein als Mittel zum Kampf eingesetzt wird. Weitere Exponate zeigen, dass Prozesse der Bewegung, Verschiebung und Veränderung ebenso zentral in Dóra Maurers Schaffen sind wie ihr Streben nach einer Systematisierung. In der Fotoserie "Reversible and Changeable Phases of Movements" (1972) zum Beispiel hat die Künstlerin kleine Schwarz-Weiss-Fotografien in vertikaler und horizontaler Reihung rasterartig angeordnet. Sie alle geben verschiedene Phasen einer einfachen Handlung wieder – Handbewegungen ("No. 6"), Nicken bzw. Kopfschütteln ("No. 3") oder ein Sichumdrehen beim Gehen ("No. 5"). Die gereihten Bewegungsabfolgen wirken beinahe identisch, da die einzelnen Fotos wiederholt in unterschiedlichen Kombinationen auftauchen und somit zu austauschbaren Teilen werden.

In den "Schautafeln" wird Maurers Vorliebe für mathematische Spielereien deutlich. Sie zeigen eine systematische Anordnung von Objekten und Materialien aus der Natur, die Maurer innerhalb eines festgelegten Rasters verschoben hat. In "Schautafel 4", "Insgesamt 500 Werte, Magisches Quadrat" (1972) sind kleine Baumzweige auf einer Fläche mit 5 x 5 Feldern verteilt, wobei die Felder nicht quadratisch, sondern rechteckig in einem Seitenverhältnis von 4:5 erscheinen. Einige der Ästchen sind mit einer Farbe bemalt, die ihrerseits für einen Wert steht, sodass die Summe jeder Reihe 100 ergibt.

Im zweiten Raum werden einige Druckgrafiken vorgestellt, in denen die Veränderung von Materialien durch den Druckprozess selbst im Vordergrund steht. In "Diagonal Folding of a Plate" (1975) wird die gefaltete Aluminiumplatte, die durch das Pressen entscheidende Veränderungen erfährt, selbst zum Objekt. Bei "Printing till Exhaustion" (1979–1981) wiederum wird so lange auf der mit Kaltnadel gerillten Aluplatte gedruckt, bis der Druckstock völlig abgerieben ist. Der Verschleiss der Druckerplatte hängt jeweils vom Abstand der geritzten Kerben ab, der mit 1, 2, 3, 5 und 8 Millimetern die Zahlenfolge der Fibonacci-Reihe aufgreift.

In der siebenteiligen Arbeit "Seven Twists" (1979/2011) wird die künstlerische Methode des Verschiebens exemplarisch sichtbar. Das erste Bild zeigt eine Porträtaufnahme der Künstlerin, wie sie ein auf die Spitze gestelltes quadratisches weisses Blatt Papier vor sich hält. Das leere Blatt Papier fungiert als Platzhalter für die zweite Arbeit aus der Serie, in der Dóra Maurer in gleicher Pose abgelichtet ist. Anstelle des weissen Papiers hält sie nun die erste Aufnahme in der Hand, die folglich in einem 45°-Winkel geneigt erscheint. Dieses Vorgehen wird fünf Mal wiederholt. Die daraus resultierende Fotoreihe zeigt eine Verschachtelung von Quadraten, die stets in einem bestimmten Proportionsverhältnis zueinander stehen.

Um Grössenverhältnisse geht es auch in den 1979 entstandenen Werken "Proportions, 5 out of 3 und 5 out of 4" im dritten Raum. In "Proportions" zeigen neun Stills Ausschnitte aus der gleichnamigen Videoarbeit, die in der Säulenhalle präsentiert wird. Die Körpergrösse der Künstlerin wird darin als Referenzgrösse eingesetzt, wobei ein Viertel ihrer Körperlänge die massgebene Einheit für weitere Abmessungen bildet. Auch die Videoarbeit "Timing", ebenfalls in der Säulenhalle zu sehen, hat Maurer unter Einbezug der eigenen Physis realisiert. Hier entspricht die Breite eines Tuches, das bis zu sieben Mal gefaltet wird, der Weite ihrer beiden horizontal ausgestreckten Arme. In den mehrteiligen Arbeiten "5 to 4 und 5 to 3" wiederum spielt Maurer mit dem Verhältnis von neben- bzw. untereinander angeordneten Bildflächen und den dazwischenliegenden Räumen an der Wand.

Der vierte Raum vereint verschiedene Varianten der sogenannten "Displacements", die 1972 aus den "Schautafeln" hervorgegangen sind und bis heute eine zentrale Rolle in Maurers Schaffen einnehmen. Die Basis dieser Werkgruppe bildet erneut ein Rasternetz, nun aus 10 x 10 Feldern. Darauf werden acht verschiedenfarbige, mit diagonalen Streifen markierte Vierecke systematisch verschoben – die warmen Farbtöne horizontal, die kalten diagonal, sodass es zu vielschichtigen Überlagerungen kommt. Ab 1976 beginnt Maurer, sich auf einzelne Details der "Displacements" zu konzentrieren und nennt diese Arbeiten "Quasi-Bilder". Ab 1982 überführt sie diese zweidimensionalen Werke in den Raum. Ein Schlüsselprojekt hierzu realisiert Maurer 1982/1983 im österreichischen Schloss Buchberg, wo sie sämtliche Flächen eines gewölbten Turmzimmers mit diagonal und orthogonal verlaufenden Farbbahnen bemalt. Der Entstehungsprozess ist in der filmischen Aufzeichnung "Space Painting Buchberg" (1983) dokumentiert.

In den beiden Ausstellungsräumen im dritten Stock werden neben frühen Videoarbeiten geometrische Gemälde aus drei verschiedenen Werkgruppen präsentiert, die Dóra Maurer aus den "Quasi-Bildern" entwickelt und mit "Quod Libets, Overlappings, IXEKs" (der Pluralform des ungarischen X) und "Stages" betitelt hat. Auch diese Arbeiten beruhen auf dem Prinzip einer systematischen Verschiebung, allerdings zeigen sie einen viel freieren Umgang damit. Angeregt durch Josef Albers’ Farbenlehre "Interaction of Color" konstruiert Maurer perspektivisch verzerrte, schwerelos wirkende Bildsegmente, deren sich überlagernde und gegenseitig durchdringende Farbflächen irritierende scheinkinetische Effekte hervorrufen.

Die vier filmischen Arbeiten, die Maurer zwischen 1973 und 1981 realisiert hat, zeugen von einer gleichermassen analytischen wie experimentellen Herangehensweise. In "Timing" (1973/1980) und in "Proportions" (1976) sind es einfache, sich wiederholende Handlungs- und Bewegungsabläufe, die systematisch miteinander verknüpft werden. Die Filme "Kalah" (1980) und "Triolets" (1981) zeigen hingegen eine viel komplexere Konzeption. "Triolets" ist eine Montage aus drei horizontalen Bildstreifen. Die einzelnen Aufnahmen wurden mit verschiedenen Objektiven im Atelier der Künstlerin gedreht und bestehen jeweils aus einem sekundenlangen Kameraschwenk. Jede Einstellung ist mit einer Tonspur unterlegt, einem einfachen Gesang, der dem Rhythmus der Schwenkbewegung folgt. Die dynamischen Überlagerungen von bewegtem Bild und Ton führen dabei zu einem schwindelerregenden Seh- und Hörerlebnis. Hypnotisierend wirkt auch der Film "Kalah", der in seinen Farb- und Klangwechseln den Regeln der 72 Spielzüge des alten Brettspiels Kalaha folgt. Der als Experiment angelegte Film ist in Kooperation mit dem Komponisten Zoltán Jeney entstanden und entfaltet ein eindrückliches Zusammenspiel von Klang und Bild. Entsprechend den 72 Spielzügen schuf Jeney eine Partitur aus 72 Tönen, wogegen Maurer die Spielzüge in unterschiedliche Farben und Formen übersetzte. Während die Klänge in schneller Folge abgespielt werden, blinken die Farbtafeln als konzentrische Rechtecke auf, was zu Momenten der Harmonie und der Dissonanz führt.

Mit der Gegenüberstellung von Film und Malerei macht die Ausstellung im Museum Haus Konstruktiv deutlich, dass das für Maurers Frühwerk charakteristische filmische Denken in Sequenzen und Reihen auch im malerischen Werk spürbar bleibt. Wiewohl Dóra Maurers Schaffen stark von einer konzeptuellen Praxis geprägt ist, fühlt sie sich der konstruktiv-konkreten Kunst verbunden. 2015 sagt sie dazu "Nun, eine dogmatisch nach konstruktiv-konkreten Prinzipien arbeitende Künstlerin bin ich sicher nicht. Dennoch fühle ich mich im Kontext der konkreten Kunst am besten aufgehoben. Es wäre aus meiner Sicht nicht richtig, mich bei den Konzeptkünstlern einzuordnen – trotz meiner konzeptuellen Arbeiten. Ausserdem wird heute der Begriff der konkreten Kunst von vielen führenden Fachleuten und Kunstwissenschaftlern sehr weit gefasst und nicht mehr nur auf eine extrem strenge und systematische Kunst eingegrenzt. Ein gewisses Umdenken hat da sicher stattgefunden, nicht zuletzt auch deshalb, um Grenzfälle wie mich nicht ausschliessen zu müssen."

Dóra Maurer
Minimal Movements, Shifts, 1970–2020
kuratiert von Sabine Schaschl
10. Juni bis 12. September 2021