Die eigenwilligen Bildwelten des Odilon Redon

Das Kunst Museum Winterthur zeigt einen der eigenwilligsten Künstler der anbrechenden Moderne: Odilon Redon. Die grosse Werkschau folgt seinem aussergewöhnlichen Weg vom Dunkel ins Licht, vom Schwarz der frühen Lithographien zu den Farbfantasien des reifen malerischen Schaffens.

Obwohl Odilon Redon (1840–1916) ein Freund und Zeitgenosse der Impressionisten war, schuf er ein faszinierendes Œuvre, das weit über das Erfassen reiner Sinneseindrücke hinausreichte. Vielmehr prägten ihn die Geisteshaltung des Fin de Siècle und die damaligen wissenschaftlichen Diskurse zu Evolutionslehre, Botanik, Optik und Traumforschung, die sich in seinem vieldeutigen Schaffen mit traditionellen Vorstellungen aus Mythologie und Religion sowie mit spirituellen Ideen verbinden. Eine weitere wichtige Inspirationsquelle war die Literatur seiner Zeit, die sich in Rückbesinnung auf die Mysterien der Romantik dem Fantastischen und Unbewussten zuwandte. Redon fand denn auch von Anbeginn die grösste Anerkennung und Förderung in den literarischen Kreisen der Pariser Symbolisten, die in seiner Ästhetik des Unbestimmten und Geheimnisvollen ihre Ideale verwirklicht sahen.

Im Zentrum der Ausstellung steht das bedeutende lithographische Œuvre des Künstlers, seine sogenannten Noirs. Neben programmatischen Einzelblättern werden Redons herausragende Graphikalben "A Edgar Poe" (1882), "Les origines" (1883), "Hommage à Goya" (1885) und "Tentation de Saint-Antoine" (1888) aus den Beständen des Kunst Museum Winterthur gezeigt. In diesen Arbeiten entwickelte Redon seine ikonischen Sujets, in denen präzise Naturbeobachtung und freie Imagination aufeinandertreffen. Es sind rätselhafte und traumartige Darstellungen von urzeitlichen Organismen, mythischen Wesen und kosmischen Gestalten, die in seinem späteren malerischen Werk leuchtend farbig in einem neuen visionären Licht wieder erscheinen.

Den Abschluss der Werkschau und zugleich den Sprung in die reine Farbigkeit bildet eine grosse Gruppe erlesener Pastelle und Ölgemälde aus renommierten Museen und Privatsammlungen. Zu den koloristischen Höhepunkten zählen hier Redons berühmte Blumenstillleben und Bootsbilder sowie seine bemerkenswerten Unterwasser- und Luftvisionen, in denen sich die gegensätzlichen Welten wie Traum und Wirklichkeit, Naturwissenschaft und Mythos, Gegenständlichkeit und Abstraktion in überraschenden Konstellationen verbinden. Diese Gegensätze und Widersprüche zeugen von der Aufbruchstimmung wie auch von der Verunsicherung des Fin de Siècle. In Redons Kunst erlangen sie eine geradezu universelle, zeitlose Gültigkeit, die sein Werk heute umso reizvoller und aktueller erscheinen lässt.

Die Ausstellung "Redon. Rêve et réalité" zeigt Redon nicht nur als geheimnisvollen Einzelgänger des französischen Symbolismus, sondern als aufgeschlossenen Geist an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, der mit seinem weit gefächerten Horizont dazu anregt, seine eigenwilligen Bildwelten in unseren Vorstellungen weiterzudenken.

Odilon Redon war bereits zu Lebzeiten eng mit Winterthur verbunden. Der Künstler stand in Kontakt mit Hedy und Arthur Hahnloser sowie Richard Bühler, die zu seinen ersten Sammlerinnen und Sammlern in der Schweiz zählten. Ihrem Engagement ist es zu verdanken, dass 1919 im Kunstmuseum Winterthur die erste grosse Redon-Retrospektive stattfand. Damals gelangte eine repräsentative Werkgruppe – zwei Gemälde und über 50 Zeichnungen und Druckgraphiken – in die Bestände des Kunstvereins Winterthur, die heute über 100 erstrangige Arbeiten Redons umfasst.

Redon. Rêve et réalité
Bis 30. Juli 2023
Kunst Museum Winterthur, Reinhart am Stadtgarten