Das radierte Tagebuch des Herwig Zens

Der Maler und Zeichner Herwig Zens (1943–2019) wäre heuer 80 Jahre alt geworden. Ihm zu Ehren und anlässlich der Schenkung seines Werkes "Das radierte Tagebuch" an das Kunsthistorische Museumin Wien widmet sich eine Schau diesem außergewöhnlichen Druckkunstwerk.

Es zeigt den hektischen Arbeitsalltag eines Künstlers, der – hin- und hergerissen zwischen dem Drang nach kreativem Schaffen, Reisen, Arbeitsbeziehungen und Freundschaften – im Zeitraum von 1977 bis 2006 auf über 650 (Stand 2005) Kupferdruckplatten Ausschnitte seines Lebens in Bild und Text festhielt. Als Zens die Platten schließlich von Kurt Zein auf einem durchgehenden Stück Papier drucken ließ, stellte das sowohl den bekannten Wiener Kunstdrucker als auch die Handpresse in dessen Werkstatt vor eine große Herausforderung, die eindrucksvoll bewältigt wurde. Das Tagebuch gilt heute als längste Radierung der Welt.

Neun der insgesamt vierzig Meter dieses Objektes werden nun im Bassano-Saal des Kunsthistorischen Museums aufgerollt präsentiert. Sie beleuchten speziell jene Abschnitte im Leben von Herwig Zens, die ihn mit dem Museum verbinden.

Das erfühlbar Wesentliche

In seinem künstlerischen Schaffen setzte sich Herwig Zens, 1943 im niederösterreichischen Himberg geboren, stets mit dem Existentiellen auseinander und wie es sich in der bildenden Kunst, in der Literatur und in der Musik manifestiert. Besonders zu den Werken von Velázquez, Cervantes und Schubert fühlte sich der Künstler hingezogen. In den Mittelpunkt seiner Diplomarbeit an der Akademie der bildenden Künste in Wien (1965) stellte er Goyas "Pinturas negras", die ihn sein Leben lang begleiten sollten.

Nach Erfahrung mit der Vergänglichkeit des eigenen Lebens begann Zens 1977 ein Tagebuch der besonderen Art. Eher zufällig fiel ihm in seinem Atelier ein Kupferstreifen im Format 40 × 5 cm in die Hand, in den er Notizen vom Tag kratzte. Dieses Festhalten von bedeutenden Erlebnissen in Strichätzung, Aquatinta und anderen Techniken setzte er bis zu seinem Lebensende fast täglich fort, selbst dann, wenn er für sonstige Tätigkeiten keine Zeit fand. Auf diese Weise kamen über 850 Kupferplatten zustande, die Zeitgeschichte in kurzen Texten und kleinen Zeichnungen darstellen. Durchschnittlich radierte Herwig Zens 16,8 Streifen pro Jahr, manchmal lediglich den Datumseintrag, mit zunehmender Dauer des Tagebuchs wurden die Tage ohne jegliche Eintragung immer seltener. Manche Namen von Wegbegleiter:innen und Orten, an die er mit seiner Frau Gerda, Freund:innen und Studierenden reiste, kommen regelmäßig vor. Das Werk legt Zeugnis über sein rastloses Leben ab, seinen oft beschwerlichen Arbeitsalltag als Lehrender an Wiener Gymnasien und als Professor an der Akademie der bildenden Künste sowie seiner Obsessionen als Künstler.

Die Zeit für mein Tagebuch wird kommen

Von der künstlerischen Bedeutung seines Tagebuchs überzeugt, entstanden die Aufzeichnungen für Zens zwar zuerst rein persönlich, in der Form der Radierung war jedoch von vornherein die Möglichkeit für eine gedruckte Veröffentlichung angelegt. Bereits 1991 entschied er sich zum ersten Mal, sein Werk drucken zu lassen ‒ friesartig und in einem Stück. Damals betrug es eine Länge von 12 Metern. 1995 folgte ein Druckdurchgang mit 20 Metern, 2005 entstand dann die längste Version. In Kurt Zein und dessen Werkstatt für handgedruckte Originalgrafik fand er einen kongenialen Partner für dieses außergewöhnliche Experiment. Gemeinsam entwickelten sie ein Verfahren ‒ inklusive Umbau der Werkstatt ‒, das es ermöglichte, die in 28 Jahren entstandenen Radierungen auf einem speziell angefertigten Aquarellpapier zu drucken. Ein vollständiger Druckdurchgang nahm mindestens acht Tage in Anspruch.

Mit der überwältigenden Gesamtlänge von rund 40 Metern existiert das Tagebuch in einer Auflage von zwei Stück plus einem Künstlerdruck. Jede Version gestaltet sich etwas anders, da während der Druckphase neu hinzugekommene Tagebuchstreifen sofort einbezogen wurden. Das Exemplar des Kunsthistorischen Museums endet am 4. April 2005 mit den Worten: "Zeindruck geht weiter". Herwig Zens druckte die Folgejahre jedoch nur noch als Einzelblätter, von denen in der Ausstellung die vollständigen Jahresdrucke 2005 und 2006 als Ergänzung zu sehen sind.

Das Werk wurde regelmäßig und in immer neuen Versionen vorrangig in Spanien, Deutschland und Österreich gezeigt. Die für die aktuelle Ausstellung gewählten Abschnitte thematisieren und dokumentieren insbesondere Kooperationen des Künstlers mit dem Kunsthistorischen Museum, dessen Sammlung Alter Meister für Zens eine reiche Inspirationsquelle darstellte. So finden sich Notizen zu seiner Auseinandersetzung mit Antonio Canovas Figurengruppe "Theseus besiegt den Kentauren im Theseustempel" (2000), die er mit "Mühseliges Theseusgekaue" beschrieb; ebenso zu entdecken: Zens‘ Anmerkungen zu seinen Paraphrasen auf die vierzehnteilige Bilderfolge "Pinturas negras" von Francisco de Goya, die in der großen Ausstellung über den spanischen Künstler 2005 präsentiert wurden; 2002 dokumentierte Zens im Radierten Tagebuch die Vorarbeiten zu einer gemeinsamen Ausstellung mit Irene Trawöger im Ambraser Schlosspark ("Arbeit an den Ambrastableaus"), die Paraphrasen der acht als "Schwarze Weiber" bezeichneten Bronzefiguren des Grabmals Kaiser Maximilians I. in der Hofkirche Innsbruck zeigte. Der Zeitraum, in dem er die ebenfalls im Besitz des Kunsthistorischen Museums befindliche Paraphrase zum "Selbstporträt als Hirte" des holländischen Malers Barent Fabritius schuf (das Original ist in der Akademie der bildenden Künste beheimatet), ist mit entsprechenden Einträgen von Arbeitsskizzen begleitet und wird in der Schau zu sehen sein.

Herwig Zens verstarb am 24. September 2019. Ein Zitat des Galeristen Manfred Lang bringt den präzise verdichteten und zugleich rastlosen Stil des Künstlers auf den Punkt: "Vor allem aber war er ein herausragender Zeichner. Sein Strich kann imaginieren und reduzieren – auf das erfühlbar Wesentliche. Somit dem Wahren eine künstlerische Wertigkeit geben."

2021 schenkte Gerda Zens dem Kunsthistorischen Museum "Das radierte Tagebuch" und die Paraphrase zum "Selbstporträt als Hirte" des holländischen Malers Barent Fabritius.

Am Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität für Weiterbildung Krems ist eine vollständige digitale Edition des radierten Tagebuches von Herwig Zens unter Leitung von Viola Rühse (Zentrum für Bildwissenschaften) und Nikolaus Kratzer (Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften) geplant.

»Das Monster ist geglückt«
Bis 29. Mai 2023
Kuratorin der Ausstellung: Hanna Schneck, Direktorin der Bibliothek,
Ausstellungs-Website: Das-Radierte-Tagebuch.khm.at