Musikalisch feierlich eröffnet wird die Verabschiedungsfeier mit einer betörenden Mischkulanz aus balkanisch, indisch und wienerischen Klängen – Akkordeon, Sitar und Klarinette erzählen sich zugewandt, bevor die Schauspielerin Sabine Lorenz zum Hohen Lied der Liebe aus dem Korinther Brief von Paulus anhebt. „… hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts … nicht am Unrecht freut sich die Liebe, sondern an der Wahrheit … uns aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe. Vor allem die Liebe. „Dann wendet sich die Sitar westlicher Gitarrenkultur zu und galoppiert die Knopfharmonika im wilden Ritt über weite Ebenen.
Adriane von Schirach hebt zur Grabrede an. Es fällt ihr nicht leicht, sich an jenem verregneten, düsteren Abend im November des Jahres 2023 von ihrem Freund Anstand zu verabschieden. Er wird in noch dunkleren Zeiten, als es der Abend so kurz vor dem Neumond verspricht, nachfolgend seinen unlängst verstorbenen Weggefährten – die Höflichkeit, das Gewissen und die Privatsphäre – in Feldkirch zu Grabe getragen. „Wenn die Menschen ihre Menschlichkeit verlieren, werden sie nicht tierisch, sondern bestialisch.“ ICH ICH ICH, in dieser alarmistisch-gekränkten Epoche der Selbstzentrierung und -optimierung, des Nationalismus und der zusehends auseinanderdriftenden, unversöhnlichen Lager brechen über die Welt, über die Menschheit, Sturmfluten herein wie kürzlich in New York, während in der Schweiz die Gletscher schmelzen und in Brandenburg die Wälder brennen. Es herrscht Krieg in Afrika, in Europa, im Nahen Osten.
In ihrer Grabrede ruft die deutsche Philosophin und derzeitige „Artist in Residence“ der Montforter Zwischentöne ob des Verlusts des allgemein bekannten Anstands zur Suche nach dem eigenen Anstand auf, empfiehlt ihn als Anker und Kompass in diesen ver-rückten, sich zuspitzenden Lage. Ein letztes Mal sagt sie dem Aufgebahrten: „Du bedeutest mir viel, bist zwar ein wenig altmodisch und ausgewaschen …“. Ihre Worte wählt sie mit Bedacht, spricht langsam und mit großen Pausen, in denen Wehmut, ja Galgenhumor Raum greifen. Ungewohnt performativ bringt sie ihren Schmerz über die Umstände, in denen uns der Anstand abhandenkommt, in Mimik und Gestik zum Ausdruck, wirkt sie manchmal unverhohlen kindlich und den Trauergästen sehr verbunden.
Laut Schopenhauer sei Ruhm die Ausnahme und Ehre die Voraussetzung, lässt sie uns wissen. So verhält es sich wohl auch mit dem Anstand. Für ersteres braucht es Weltgewandtheit, Rückgrat und Orientierung. Im Gegenzug hat der Anstand, als kleiner Bruder der Ehre, etwas Alltägliches, etwas das uns allen zu eigen sein könnte, indem wir gelernt haben zu grüßen, Alte zu ehren und Schwache, Benachteiligte zu beschützen.
Es scheint, wir haben die Gewissheit verloren, dass uns mehr verbindet als uns trennt. „Dabei fühle ich doch, wie sehr ich verbunden bin mit meiner Katze, meinem Drucker, meiner Familie …“ konstatiert von Schirach lakonisch. Dürfen wir überhaupt noch etwas erwarten, sollte uns der Anstand nicht mehr begleiten? „Ja, das Mindeste, das was das Leben erträglich macht, das was uns trägt“ ... kommt mit Vehemenz.
Immer wieder betont Adriane von Schirach die Abspaltung der Menschen von der Schöpfung, vom Rest der lebendigen Welt, indem sie sich über diese stellen, sie beherrschen und untertan machen wollen. Und beschimpfen sich gerade deswegen gegenseitig als „gierige Affen, … Wir sollten uns schämen vor den Tieren“. Denn die Scham ist der Schatten des Anstandes, und der beginnt bei uns selbst.
„Wenn du nicht mehr da bist, wird alles fragwürdig“, wirft sie ihm mit einer Rose aufs Grab. Bevor von Schirachs Rede endet, holt sie gedanklich Viktor Frankl in die Trauerrunde, mit einem kräftigen Ja zum Menschen, zur Re-Moralisierung. Und die 10 Gebote ... Mit einem “über allem die Liebe“ gibt sie der Trauergemeinde mit einem Lächeln zarte, unverzagte Hoffnung auf den Weg.
Nach Fürbitten und unter balkanisch-mozarabischem Parlieren des virtuosen Trios verneigen sich alle vor dem Anstand, harren bedächtig aus am Sarg und hoffen mit der Grabrednerin, „…es handle sich beim Aufgebahrten nur um einen Schwächeanfall“.
Der Andachtsraum
Es bedarf einiges an Kreativität der nüchternen Halle mit wenigen Mitteln Atmosphäre abzuringen. Das auf Minimalverschleiß und „Handarbeit“ abzielende Raumkonzept von „NONA“ Architektinnen fußt auf Bestehendem: Die Lüftungsanlage wird zur Tragkonstruktion der raumhohen, violett-schwarzen Crepp-Papier Zwillings-Bahnen. Gemäß dem Motto „form follows availability“ entstehen ephemere, hinterleuchtete Pylonen, ornamentiert durch Symbole der social-media Plattformen. Eine Anspielung auf den schwindsüchtigen Anstand unserer Zeit, der nicht zuletzt durch den Sog des Internets ernsthaft zu kränkeln begann.
Das Begräbnis des Anstands
Totenrede: Die Philosophin Ariadne von Schirach
Lesung: Sabine Lorenz
Musik: Klaus Falschlunger, Sitar
Luciano Biondini, Akkordeon
Christoph Pepe Auer, Bassklarinette/Klarinette
Raum: „NONA“ Architektinnen