Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeigt Christoph Schlingensiefs (1960–2010) multimediales Kunstwerk „Kaprow City“, das als eine der wenigen installativen Arbeiten dieses bedeutenden Filmemachers, politischen Aktionskünstlers, Theater und Opernregisseurs erhalten geblieben ist.
Die raumgreifende Arbeit, die ein zentrale Rolle im grenzüberschreitenden Werk von Schlingensief spielt, wurde für eine Einzelausstellung im Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich 2007 geschaffen und befindet sich seitdem in der dortigen Sammlung. Nun wird das vollständig erhalten gebliebene Kunstwerk im K20 in Düsseldorf und damit erstmals in einem Museum in Deutschland präsentiert.
Christoph Schlingensief zählt zu den bedeutendsten Künstler_innen Deutschlands und sein früher Tod 2010 hinterlässt bis heute eine Lücke. Seine Kunst war grenzüberschreitend und fasste alle Sparten zusammen, ob Film, Theater, Oper, Installation, politischer Aktionismus und Fernsehen. Sein Werk war sehr stark durch seine physische Präsenz und Ausstrahlung geprägt. Schlingensief selbst nannte seine Aktionen „Theater der Handgreiflichkeiten“, die aus sozialer Plastik, pointierter Gesellschaftskritik, körperlicher Präsenz und klug gesetzter Provokation bestanden. Seine Rolle bewegte sich dabei zwischen Selbstdarstellung und Selbstauflösung immer aus seinem Engagement für die Menschen und die Gesellschaft heraus. Er war einer der wenigen Künstler_innen seiner Generation, deren Werk nicht nur politisch motiviert war, sondern tatsächlich zu einem wesentlichen Beitrag zum Diskurs in der Gesellschaft beigetragen hat.
Kaprow City an der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz in Berlin
Ursprünglich war „Kaprow City“ eine begehbare Installation, die Schlingensief als sein letztes Theaterstück für die Volksbühne Berlin 2006 konzipierte. Als Namensgeber des Happenings hatte Kaprow mit der Aktion „18 Happenings in 6 Parts“ 1959 in New York eines der ersten Happenings im Kontext der Bildenden Kunst aufgeführt. Kaprows Kunstverständnis inspirierte Schlingensief wesentlich zu der Inszenierung von „Kaprow City“ an der Volksbühne, der er den Untertitel „18 Happenings in einer Sekunde“ gab.
Vermeintlich chaotisch, akustisch und visuell überwältigend und auf einer Drehbühne platziert, hatte Schlingensief ein Bühnenbild geschaffen, in dem Schauspieler_innen und das Publikum ihren Platz fanden. Die Besucher_innen wurden dafür in Anlehnung an die Ideen von Allan Kaprow in Gruppen aufgeteilt und mit alltäglichen Handlungen konfrontiert. Eine von Schlingensiefs weiteren Ideen für das Theaterstück war es, einen Film über die letzten Stunden im Leben von Lady Diana zu drehen. Die Besetzung der Rolle mit der Schauspielerin Jenny Elvers-Elbertzhagen führte zu einem außergewöhnlichen Medienrummel im Vorfeld des Stücks. Die mysteriösen Umstände des Todes von Lady Diana in Verschmelzung mit den Themen Kaprows waren für ihn Anlass, über die Wahrheit und das Verhältnis von Realität und Fiktion im Leben wie in den Künsten nachzudenken.
Kaprow City im K20
Die großformatige Installation „Kaprow City“ wie sie im K20 zu sehen ist, ist das Ergebnis einer Transformation durch Schlingensief: Für die Ausstellung „Querverstümmelung“, die Schlingensief im Herbst 2007 für das Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich einrichtete, erfolgte der Umbau des Bühnenbildes zum eigenständigen Kunstwerk. Es war seine zu Lebzeiten größte Einzelausstellung in einem Museum und „Kaprow City“ bildete den Auftakt der Ausstellung.
Für diese (Re-)Dekonstruktion, wie es 2007 im Kontext der Ausstellung umschrieben wurde, nutzte Schlingensief drei Viertel der ursprünglichen Theaterbühne für die Grundstruktur des neuen Werks. In einem organischen Prozess baute er diese um, befreite die Raumsegmente von vielen Requisiten und setzte Filmausschnitte ein. Durch Folien unzugänglich gemacht, präsentiert sich das Werk heute als tonlose, filmische Großinstallation, der die eigene Historie unmittelbar eingeschrieben ist. Für Schlingensief markierte die Realisierung dieser Kunstinstallation eine neue Phase in seinem künstlerischen Schaffen: die des Nachdenkens über das von der Person des Künstlers autonome Kunstwerk. So nutzte er das Museum als „Schutzraum“, um über die eigene Präsenz zu reflektieren und beschreibt dies folgendermaßen: „Ich nehme den Schutzraum Museum nach meinen Erlebnissen am Theater voll und ganz an. Ich muss mich nicht darum kümmern, ob am Abend 400 Leute kommen und ich nach zwei Stunden beklatscht werde oder ausgebuht. Ich kann jetzt das machen, was ich immer gemacht habe. Und zwar alleine, wie im Schneideraum. Ein Museum hat für mich die Ausstrahlung, als wären alle draußen im Tiefschlaf, und man selbst kann arbeiten. Das mag ich sehr. […] Und am schönsten ist für mich die Erkenntnis, dass sich die Bilder auch dann noch unterhalten, wenn ich schon zu Hause bin.“ (Schlingensief im Interview mit Cornelius Tittel für die Zeitschrift Monopol, 1/2008)
Die Transformation des Bühnenbilds in eine Kunstinstallation liegt in einem grundsätzlichen Wesenszug von Schlingensiefs Schaffen begründet: Die Freiheit der Reflexion – über sich selbst und das eigene Handeln genauso wie über aktuelle Gegebenheiten und gesellschaftliche Zustände – als einen fortwährenden Prozess für die kreative Arbeit zu nutzen. In großer Selbstverständlichkeit reagiert Schlingensief auf private Situationen und Momente wie eine erlebte Augenkrankheit oder den Tod des Vaters im gleichen Jahr der Ausstellung und führt sie inhaltlich genauso in das Werk ein wie andere Stücke und Projekte, an denen er gerade arbeitete.
Die Jahre 2006/07, in denen das Theaterstück „Kaprow City“ und auch der Umbau zur Kunstinstallation stattfanden, können als eine sehr produktive Zeit des Künstlers beschrieben werden. Die „Animatographen“ in Island, Deutschland und Namibia, die Präsentation „Mozart Balls – Cokocko“ in Salzburg, die Oper „Der fliegende Holländer“ in Brasilien oder der Film „Fremdverstümmelung“ – diese Projekte finden einen Widerhall in „Kaprow City“ und greifen im Prozess des freien und spontanen Mäanderns ineinander. Schlingensief, der keinerlei Kraft aus der Festschreibung gezogen hat und sich ihr immer wieder ganz bewusst entzog, lädt ein, sich auf die Arbeit mit ihren vielen assoziativen Überlagerungen einzulassen.
Die gattungsspezifischen Momente seiner Entstehungsgeschichte sind dem Kunstwerk „Kaprow City“ ebenso wie andere Referenzen eingeschrieben. Der performative Charakter des Theaterstücks mit seinen unzähligen Aktionen, für das im Sinne der Animatographen die Bühne als Kamera verstanden wurde, transportiert sich den Besucher_innen umgehend. Die Anwesenheit des vergangenen Moments verwebt sich mit der Ebene des Kunstobjekts, das mit dem Einbringen der Filmausschnitte und der geschlossenen Fassaden eine ganz andere Zeitlichkeit ausstrahlt und im Kontext des Museums ästhetische Referenzen zu Bildenden Künstlern wie etwa Paul Thek herstellt.
Der Film „Fremdverstümmelung“, den er in Ausschnitten in die Kunstinstallation einbrachte und damit die Raumsegmente zu Kinos umfunktionierte, war ursprünglich für ein Opernprojekt in Bonn kurz vor der Ausstellung 2007 entstanden. Das Projekt basierte auf dem von Schlingensief verehrten Film „Freaks“ (1932) von Tod Browning, in dem Kleinwüchsige und Menschen mit Behinderung als „Freaks“ in einem Zirkus die Hauptrollen spielen. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Rolle von Menschen mit Behinderung in der Operninszenierung zog sich Schlingensief jedoch aus dem Projekt zurück. Schlingensief vertrat die Auffassung, dass ein Stück über behinderte Menschen auch mit ihnen in tragenden Rollen stattzufinden habe.
Der Film mit all seinen Möglichkeiten spielte in der Phase des Umbaus wieder eine große Rolle für Schlingensief. Die Erkenntnis „Ich sehe was, was Du nicht siehst“, die ihn durch den Vater früh zum Film brachte, ist ein prägender Gedanke, der sich in dieser Installation wiederfindet. Schlingensief überträgt die Erfahrung der zufälligen Doppelbelichtung im analogen Film auf die Ebene der kritischen Reflexion.
Mit Hilfe von Filmausschnitten, Fotografien und anderem Archivmaterial möchte das Ausstellungsprojekt in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen den Weg von „Kaprow City“ vom Theaterprojekt zum musealen Kunstwerk nachzeichnen. Neben der Installation, die in der Grabbe Halle des K20 zu sehen ist, dokumentiert ausgewähltes Archivmaterial des Künstlers seine typische Arbeitsweise.
Christoph Schlingensief
Kaprow City
Kuratorin: Kathrin Beßen
24. April bis 17. Oktober 2021