Charlie Prodger - The Offering Formula

Die Praxis der schottischen Künstlerin Charlie Prodger verbindet Bewegtbild, Fotografie, Skulptur und Zeichnung. Sie gewann 2018 den Turner Prize und vertrat Schottland 2019 auf der Biennale von Venedig. 2023–24 arbeitet sie als Fellow am Radcliffe Institute for Advanced Study der Harvard University.
 

Prodgers Kunst kreist um Geschichten – von der Schwere der geologischen Tiefenzeit bis hin zu variableren Formen wie Anekdoten und mündlichen Überlieferungen. Ihre Kunst erkundet die verwickelten Beziehungen zwischen Körper, Landschaft, Sprache, Technologie und Zeit im Prisma queerer Subjektivität. Die Ausstellung versammelt Zeichnungen, Fotografien und eine Filmtrilogie, die zwischen 2010 und 2023 entstanden sind.

Die ersten zwei Räume sind Fotografien und einer neuen Serie von Zeichnungen gewidmet. Prodger ist von Prozessen der Musealisierung und Erhaltung fasziniert, in denen Materialien und Zeit, Beständigkeit und Entropie in einem sich stets wandelnden Gleichgewicht stehen und Daten immerfort von einem Format ins nächste migrieren, um ihrer drohenden Veralterung zu entgehen. Drei gezeichnete Stillleben stellen mises en abyme übereinanderliegender LPs und CDs dar, die noch aus Prodgers Kindheit in den 1980ern stammen. Die Kratzer, Flecken und Alterspatina sind wie bei einer Art umgekehrten Restaurierung peinlich genau wiedergegeben. Eine vierte Zeichnung zeigt eine Sammlung von Festplatten der Künstlerin, benannt nach Frauen, die sie beeinflusst haben und die sie bewundert. Die Kiste, in der die Festplatten lagern und mit ihr Prodgers gesamtes Archiv der vergangenen zwei Jahrzehnte, bildet gewissermaßen ein Selbstporträt in Daten.

Prodgers fotografische Serie "Palace Prints" (2019) zeigt Buchseiten mit Abbildungen von assyrischen Palastreliefs, die die Künstlerin auf einer karierten Schneidematte collagiert hat. Die um 640 v. Chr. entstandenen Reliefs zeigen Löwenjagdszenen. Die Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund erscheint hier verflacht, im Gegensatz zur Tiefenillusion der Linearperspektive. In diesen räumlichen Systemen klingt Prodgers andauernde Beschäftigung mit der Perspektive im Verhältnis zu Körpern und Landschaft an. Rosalind Krauss’ 1979 erschienener wegweisender Essay "The Grid" über das Rasternetz als Koordinatensystem, in dem Dinge angeordnet werden können, aber auch als unermessliches Feld, das sich über alle Grenzen und Rahmen hinaus erstreckt, bildet eine wichtige Referenz für die Künstlerin.

Prodgers Farnarbeiten (2015–16) zeigen gefundene taxonomische Darstellungen von Farnen, die seit Urzeiten unverändert geblieben sind und sich durch ihre Fähigkeit auszeichnen, an unwirtlichen Standorten zu überleben. Auf den Drucken liegen Plexiglasscheiben mit geometrischen Lochmustern, die die Muster der Lüftungsschlitze der Videomonitore der Künstlerin nachbilden.

"Sophie with Sheets" (2010) ist eine Serie von vier analogen Fotografien, die Prodger während ihres Studiums am CalArts 2009–2010 entwickelte. Auf den fotokopierten Blättern – liegengebliebenes Unterrichtsmaterial für einen Animationszeichenkurs – ist die Bewegungsabfolge einer sich drehenden Faust zu sehen, die veranschaulicht, wie anatomische Bewegungen Kader für Kader gezeichnet werden. Dieses Framing einer körperlichen Geste aus einer queeren Perspektive ist ein frühes Beispiel dafür, wie Prodger die formalen Parameter von Zeit und Technologie im Spannungsfeld zwischen queeren Chiffren, weiblicher Männlichkeit und der intimen Bedingtheit von Materialien aktiviert.

Im dritten Raum zeigt Prodger erstmals alle Teile ihrer gefeierten Filmtrilogie, Stoneymollan "Trail" (2015), "Bridgit" (2016) und "SaF05" (2019). Der autobiografische Zyklus zeichnet die Zugehörigkeiten, Sehnsüchte und Verlusterfahrungen nach, die sich im Lauf der Jahre im Selbst anreichern und es prägen.

"Stoneymollan Trail" (2015) entstand als Auftragsarbeit für den Margaret Tait Award 2014. Die Eingangssequenz hat Prodger aus Aufnahmen aus der Zeit zwischen 1993 und 2013 komponiert, die auf DV-Bändern gespeichert sind, die zunehmend an Qualität einbüßen. Die nach einem historischen "Leichenweg" an der schottischen Westküste betitelte Arbeit verknüpft eine Geschichte der Videoformate der letzten Jahrzehnte mit Prodgers eigener Geschichte. Für die Voiceovers lud Prodger Freund:innen ein, als erweiterte Verkörperung ihres Selbst aus ihren privaten Tagebüchern vorzulesen. Dazu kommen Zitate aus den Memoiren des Science-Fiction-Autors Samuel Delaney und ein Auszug aus einem Essay, in dem die postminimalistische Künstlerin Nancy Holt die schwankenden Grenzen zwischen Selbst und anderen anhand von Intimität und Arbeit untersucht. Das Zitieren fungiert bei Prodger als eine Form der Widmung, die mündliche Überlieferungen, persönliche Briefe, ihr eigenes Schreiben und die Worte anderer in ihre Kunst mit einbezieht. Der linearen Geschichte und ihrem Fortschrittsimperativ setzt sie eine Matrix queerer Beziehungen entgegen.

"Bridgit" (2016), der Film, mit dem Prodger 2018 den Turner Prize gewann, ist nach einer jungsteinzeitlichen Gottheit betitelt, deren Name je nach Lebensabschnitt, Ort und historischer Periode diverse Variationen aufweist. Die Erkundung der sich zeitlich wandelnden Wechselbeziehungen zwischen Name, Körper und Landschaft konzentriert sich auf weibliche Verbundenheit – und einen Identifikationsprozess, der Freund:innen, ihre Gestalt verändernde Gottheiten und andere Einflussfiguren einbezieht. Gedreht wurde "Bridgit" vollständig auf Prodgers Handy, das sie als skulpturalen Apparat handhabt, und als Prothese oder Verlängerung des Nervensystems betrachtet. Als solches ist es aufs Engste mit den Bewegungen des Körpers, mit globalen gesellschaftlichen Interaktionen und Arbeit verknüpft.

"SaF05" (2019), mit dem Prodger 2019 Schottland auf der Biennale von Venedig vertrat, speist sich aus archivarischen und wissenschaftlichen Quellen sowie Tagebüchern und verbindet Material, das an diversen geografischen Orten aufgenommen wurde (den schottischen Highlands, der Wüste im Großen Becken, dem Okavangodelta und den Ionischen Inseln). Der Film ist nach einer bemähnten Löwin benannt, des letzten von mehreren solchen Tieren, die im Okavangodelta beobachtet wurden, und die hier als Chiffre für queere Bindungen und Begehren fungiert. Prodger hat nur Kenntnisse aus einer Datenbank mit Aufzeichnungen ihrer Verhaltensweisen sowie Bildmaterial, das Naturschützer:innen mit Kamerafallen aufnehmen konnten. Für den Dreh arbeitete sie aufgrund ihrer jeweils spezifischen Eigenschaften mit professionellen Filmkameras, einem Smartphone, einer Kamerafalle und einer Drohne. Das Summen der Drohne dient als Klangmotiv und mutiert im Verlauf der Tonspur, zu Dudelsack, zum Paarungsruf einer Zikade, Saxofon und zum batteriebetriebenen Wecker: synkopierte Entsprechungen zwischen Tier und Mensch, Instrument und Maschine. Gleichzeitig zeichnet Prodgers Stimme aus dem Off eine Chronologie intimer Gesten und zwischenmenschlicher Verbindungen von der Pubertät bis heute nach, in die sich größere politische Strukturen von Souveränität, Landnutzung und territorialer Herrschaft eingeschrieben haben. "SaF05" ist eine Betrachtung über Beziehungen, die Vorstellungen von Intimität, Sexualität und Verwandtschaft erweitern und verschwimmen lassen.

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Charlie Prodger
The Offering Formula
Bis 25. Februar 2024
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