Amar Kanwar – Evidence

Zwei einschneidende Ereignisse haben Amar Kanwar 1984 als jungen Studenten entscheidend geprägt: Einerseits die organisierten Massaker, die Vergeltungsschläge an Sikhs nach der Ermordung von Indira Gandhi am 31. Oktober 1984. Und andererseits die Chemiekatastrophe in Bhopal, als am 3. Dezember des gleichen Jahres aus einer Pestizidfabrik der amerikanischen Chemiefirma Union Carbide giftige Dämpfe entwichen, die mehrere tausend Menschen töteten und hunderttausende verletzten.

Amar Kanwar studierte damals Geschichte, reiste dann ins Innere Indiens, um in einer Kohlenbergbau-Region zum Thema Alkoholismus und andere Berufsrisiken zu recherchieren, und schrieb sich dann an der Filmschule am Mass Communications Research Center der Jamia Millia Islamia University in Delhi ein.

Der Durchbruch gelang ihm mit "Earth as Witness" (Erde als Zeugin), einem Film, den er 1994 für die tibetische Exilregierung realisierte. Danach folgten diejenigen Filme, mit denen Anwar Kanwar bekannt geworden ist: "A Season Outside" (Eine Jahreszeit ausserhalb; 1997), "A Night of Prophecy" (Eine Nacht der Prophezeiung; 2002), "To Remember" (Erinnern; 2003), die zusammen die "Trilogy" (Trilogie) bilden, "King of Dreams" (König der Träume; 2001), "Hennigsvaer" (2006), die neunzehnteilige Videoinstallation "The Torn First Pages" (Die zerrissenen ersten Seiten; 2004–2008), die achtteilige Installation "The Lightning Testimonies" (Die Blitzzeugnisse; 2007), "A Love Story" (Eine Liebesgeschichte; 2010) und der neue Film, den Amar Kanwar diesen Sommer auf der Documenta 13 zeigt: "The Sovereign Forest" (Der fürstliche Wald; 2012).

"A Season Outside" thematisiert anhand des Grenzübergangs Wagah die spannungsgeladene Lage an der Grenze zwischen Indien und Pakistan. "To Remember" setzt einen Besuch des Birla Houses – das Haus, in dem Mahatma Gandhi die letzten Tage seines Lebens verbracht hatte, bevor er dort am 30. Januar 1948 ermordet wurde – als stummes Mittel ein, um den Unterschied zwischen Realität und kollektivem Gedächtnis zu erforschen. "A Night of Prophecy" wiederum scheint voller Gesang und Poesie. Der Film folgt den Bruchstellen und Narben der indischen Nation und ihrer Geschichte.

"Henningsvaer" entstand in Norwegen, am Polarkreis, bei den fischreichen Gewässern rund um die Insel Henningsvaer. Das ganze Video ist durch die vielen Fenster eines einzigen Hauses gefilmt worden und thematisiert, wie Amar Kanwar schreibt, die "dünne Linie zwischen Paradies und Gefängnis". Die komplexe raumfüllende Videoinstallation mit einer dreiteiligen Grundstruktur "The Torn First Pages" ist eine Ode an die burmesische Widerstandsbewegung, die sich über Jahre und Jahrzehnte für eine demokratische Gesellschaft eingesetzt hat. Gleichzeitig ist der Film dem burmesischen Buchhändler Ko Than Htay gewidmet, der jeweils die erste Seite jedes Buchs herausgerissen hat, bevor er es verkaufte. Auf diesen ersten Seiten standen die ideologischen Slogans des burmesischen Militärregimes.

"The Lightning Testimonies" beschäftigt sich mit Vergewaltigungen, mit sexueller Gewalt auf dem indischen Subkontinent, eindrücklich ruhig und zurückhaltend auf acht Kanälen visualisiert, die sich gegen Ende hin auf eine Einkanalprojektion konzentrieren. "A Love Story" schliesslich, eine Miniatur von Film, lässt in wenigen Minuten den Schmerz individueller und gesellschaftlicher Trennung verschmelzen. Und ist zugleich ein Film über das Filmen selbst.

Amar Kanwar beschäftigt sich mit sozialen, politischen, gesellschaftlichen Fragestellungen, doch es sind weniger die harten Fakten, die ihn interessieren, nicht die einfachen, schnell benennbaren Inhalte. Kanwar sucht weitergehende, tiefer reichende Zusammenhänge, den Nerv des Lebens, der Gesellschaft, der Erfahrung treffende Gewissheiten, erdauerte, erlebte, gefühlte "Beweise". Dabei erkundet er Handlungs-, Verhaltens- und Reaktionsweisen wie Musiker Halbtöne, Vierteltöne, Septimen erforschen, wandert in ernsthaftem, melancholischem Moll durch das komplexe Dickicht vielfältiger Ursachen und Wirkungen. Wie wird mit einer Situation umgegangen, wie mit einer Erfahrung, einem tiefen Erlebnis, einem prägenden Schmerz? Wie verhalten sich Staatsvertreter, wie überleben die Menschen, wie verarbeiten sie ihr Trauma, wie erinnern wir uns an sie, an ihre besondere Leistung, ihren unbändigen Willen?

Amar Kanwar glaubt so wenig an Lineares wie an Eindimensionales. Seine Vorstellung von Leben ist von der Idee der Vielschichtigkeit geprägt: von vielen Ebenen, verwunschenen Wegen, unterschiedlichen Zeitsträngen, die parallel laufen oder sich kreuzen. Er gebraucht dafür selbst den Begriff der "multiplicity", die Erfahrung von vielfacher, multipler Zeit, innerhalb und ausserhalb, die sich öffnet und alle Formen der Kommunikation verbindet.

Statt zu vereinfachen, will Amar Kanwar den Dingen Zeit geben, sich zu entwickeln, will ihnen ihre eigene Geschwindigkeit lassen. So wie die Frau in "The Lightning Testimonies" ihre Geschichte sorgfältig und gedankenvoll in den Stoff des Kleides hineinarbeitet, ihre Erfahrung mit Gewalt, den schweren Verlust der Freundin langsam verwebt. Das Konzept von "Evidence", Gewissheit und Beweis mag wie ein Baumstamm aus dem Boden ragen, doch er ist umrankt von Efeu, von allerlei Kraut, seine Zweige kargen weit aus. Er dehnt sich, er ächzt, er streckt sich, verbindet sich mit anderen Baumstämmen, anderen Gewissheiten zu einem grossen Wald.

Amar Kanwar wurde 1964 in Neu-Delhi geboren. In den letzten Jahren wurden seine Arbeiten in der Marian Goodman Gallery, New York, im Haus der Kunst, München und im Stedelijk Museum, Amsterdam im Rahmen von Einzelausstellungen gezeigt. Er wurde zur Documenta 11 und zur Documenta 12 eingeladen und sein neustes Werk ist aktuell im Rahmen der Documenta 13 in Kassel zu sehen. Er gewann den 1. Edvard Munch Award for Contemporary Art und das amerikanische Maine College of Art verlieh ihm einen Ehrendoktortitel der Fine Arts. Seine Filme werden regelmässig an Filmfestivals gezeigt und er hat mehrere Filmpreise gewonnen, u.a. den Golden Gate Award am San Francisco International Film Festival, den Golden Conch am Mumbai International Film Festival, den Preis der Jury am Film South Asia in Nepal. Im Juni 2012 wurde am 50. International Film Festival of Kerala eine Retrospektive seines filmischen Werks gezeigt. Amar Kanwar lebt und arbeitet von Neu-Delhi aus.

Die Ausstellung im Fotomuseum Winterthur zeigt in sieben Räumen die folgenden zentralen Videowerke von Amar Kanwar: Trilogy, 1997-2003 (A Season Outside, A Night of Prophecy und To Remember); The Torn First Pages (Part I, II & III), 2004-2008; Henningsvaer, 2006; The Lightning Testimonies, 2007; A Love Story, 2010. Zur Ausstellung erscheint ein Buch im Steidl Verlag (Hg. Urs Stahel/Daniela Janser) mit Essays von Amar Kanwar, Marie Muracciole, Sandhini Poddar, Anne Rutherford, Aseem Shrivastava und Urs Stahel.

Amar Kanwar – Evidence
8. September bis 18. November 2012
Fotomuseum Winterthur (Halle + Galerie)