69. Filmfestival Locarno: Große Vielfalt, aufregende Retrospektive

Große Vielfalt und ansprechende Qualität bot der Wettbewerb des heurigen Filmfestivals von Locarno. Echte Entdeckungen konnte man aber vor allem in der Retrospektive machen, mit der das Bild des Kinos der BRD der 1950er Jahre revidiert wurde.

Der überragende Film fehlte im heurigen Wettbewerb. Beeindruckt verließ man zwar mehrfach das Kino, aber wirklich überrascht wurde man wohl nie. Mit welcher Meisterschaft Rainer Frimmel und Tizza Covi Fiktion und Wirklichkeit vermischen können, bewiesen sie schon in ihren bisherigen Filmen und gingen mit "Mister Universo" ihren Stil ebenso konsequent weiter wie Angela Schanelec mit "Der traumhafte Weg".

Starke sozialrealistische Filme kamen aus Osteuropa, zu überzeugen wusste auch Michael Kochs "Marija". Doch wie letzterer in der Tradition des Kinos von Ken Loach und der Dardenne Brüder steht, so weckte Joao Pedro Rodrigues mit "O ornitologo" Erinnerungen an Luis Bunuel. Gut kann man sich vorstellen in den nächsten Jahren weitere Filme dieser und weiterer Regisseure zu sehen, das Gefühl aber, dass sich hier wie beispielsweise letztes Jahr mit "Tikkun" ein großes Talent zu Wort meldete, das bald zu den Großen des Weltkinos aufsteigen könnte, hatte man allerdings nie.

Eine bunte Mischung kennzeichnete auch das Piazza-Programm, ließ es aber – abgesehen von Ken Loachs Cannes-Sieger "I, Daniel Blake" - ebenfalls an echten Highlights missen. Ein rund erzähltes Biopic ist zwar "Paula", in dem Christian Schwochow Einblick in das Leben der Malerin Paula Modersohn-Becker bietet, ist aber doch viel zu bieder inszeniert. Gut unterhalten wurde man bei "Vincent", mit dem Christian van Rompaey eine belgische Variante von "Little Miss Sunshine" vorlegte, bescherte aber kaum für ein unvergessliches Kinoerlebnis.

Für die musste heuer vor allem die von Olaf Möller und Roberto Turigliatto kuratierte Retrospektive sorgen, konnte man hier doch anhand von rund 70 Filmen sein Bild des Kinos der BRD der 1950er Jahre gründlich revidieren. Waren Robert Siodmaks "Nachts, wenn der Teufel kam" und Wolfgang Staudtes "Krimes" schon zuvor keine Geheimtipps mehr, so wird die Entdeckung von Ottomar Domnicks "Jonas" zu den bleibenden Eindrücken dieses Festivals gehören.

Als ausgesprochen klug muss man die Auswahl bezeichnen, fehlten doch auch Filme aus der DDR nicht, die einen Blick auf die BRD warfen. Historisch interessant war Martin Hellbergs "Das verurteilte Dorf" (1952), in dem ein bundesdeutsches Dorf, das zwecks Errichtung eines US-Militärflughafens evakuiert werden soll, hartnäckig Widerstand leistet. Offen bleibt, inwieweit hinter der Schilderung der bundesdeutschen Situation verdeckte Kritik an Verhältnissen der DDR geübt wird und die Amerikaner Stellvertreter für die Sowjets sind.

Kritik an der Verflechtung der bundesdeutschen Behörden mit den USA und an der Atompolitik wird auch in Gottfried Kolditz´ Thriller "Weisses Blut" (1959) geübt, in dem die radioaktive Verstrahlung eines Bundeswehr-Offiziers vertuscht werden soll, um bundesdeutsche Aufrüstungsprojekte nicht zu gefährden.

Da mag die Botschaft auch äußerst plakativ und redundant gepredigt werden, spannend ist auch dieser Film in der Zeichnung der BRD, im Mix aus stereotypen Feindbildern und Sympathieträgern und in der Schilderung des Freizeitlebens mit Partys, Jazz und Wasserskifahren, bei der die intendierte Kritik an westlicher Dekadenz ins Gegenteil kippt und Lust auf dieses Leben weckt.

Lust auf mehr haben einzelne Filme dieser Retrospektive geweckt – eine Lust, die in den nächsten Monaten in Zürich, Bern und im deutschen Filmmuseum Frankfurt mit zumindest einigen Filmen aus dieser Retrospektive sowie mit dem hervorragenden Katalog gestillt werden kann.