69. Filmfestival Locarno: Wie wird man Dschihadistin?

Brandaktuell ist "Le ciel attendra", in dem Marie-Castille Mention-Schaar am Beispiel von zwei französischen Mädchen erzählt, wie die Radikalisierung zur Dschihadistin erfolgt, doch der didaktische Gestus dieses Piazza-Films ist schwer zu ertragen. Im Wettbewerb setzt sich die Vielfalt mit Joao Pedro Rodrigues´ absurd-surrealem "O Ornitólogo" und Michael Kochs Sozialdrama "Marija" fort.

Mitten hinein wirft Marie-Castille Mention-Schaar den Zuschauer, wenn Eltern hautnah vor der Kamera in einer Selbsthilfegruppe entsetzt erklären, dass sie nichts von der Wandlung ihrer Tochter bemerkt haben und sie doch ein intaktes und stabiles Familienleben führen würden. Packend geht es mit dem Einsatz einer Anti-Terrorgruppe weiter, die ein Einfamilienhaus stürmt und vor den Augen der geschockten Eltern die 17-jährige Sonja abführt.

In Parallelmontage erzählt Mention-Schaar nach diesem hochdramatischen Auftakt, wie schwer es nach der Haftentlassung Sonjas, die als Dschihadistin nach Syrien wollte, für ihre Eltern ist, der Tochter ihre Gesinnung auszutreiben, und andererseits, wie die 16-jährige Melanie zu dieser Gesinnung kam. Unterbrochen werden diese Erzählstränge immer wieder von Sitzungen in der Selbsthilfegruppe, in der eine Expertin Tipps gibt.

Speziell in letzteren Szenen zeigt sich rasch der didaktische Ansatz des Films, denn weniger den Eltern als vielmehr dem Zuschauer wird hier erklärt, worauf er im Verhalten seiner Kinder achten sollte, was es mit dem Dschilbab oder einem Kätzchen und einer Kalaschnikov im Internet auf sich hat.

Wie die Eltern hier nur Funktionsträger bleiben, aber trotz Besetzung mit Stars wie Sandrine Bonnaire nicht zu Charakteren werden, so dient auch Melanie der Regisseurin nur als Modell, um an ihr Schritt für Schritt durchzuexerzieren, wie die Indoktrination abläuft.

Dass dies nicht an einer überzeugten Muslimin, sondern einer Katholikin, die schließlich konvertiert, erfolgt, ist eine Strategie, um dem bürgerlichen Kinozuschauer zuzurufen, achtsam zu sein, dass die Wandlung auch diesbezüglich scheinbar völlig unverdächtige Jugendliche betreffen kann. – Jede Szene ist hier auf ihre Botschaft angelegt, soll aufklären.

So vereinfacht – und damit letztlich auch mehr behauptet als wirklich nachvollziehbar - hier die Gehirnwäsche geschildert wird, so wichtig sind die Einblicke, die geboten werden, doch abgesehen vom Informationsgehalt bleibt letztlich eben nicht viel. – Brennend aktuell ist "Le ciel attendra" zwar, wird aber nach – hoffentlich baldiger – Überwindung des IS-Terrorismus rasch in Vergessenheit geraten.

Stärkere filmische Qualitäten hat hier schon Michael Kochs Wettbewerbsbeitrag "Marija". Geradlinig erzählt Koch von einer in Dortmund lebenden jungen Ukrainerin, die zwar zunächst ihren Job als Reinigungskraft verliert, danach aber umso entschlossener an ihrem Traum von einem eigenen Frisiersalon festhält und dafür auch bereit ist, andere zu verraten.

Überzeugend vermittelt diese Entwicklung auch die Kameraarbeit, wenn sie am Beginn Marija im Rücken folgt, am Ende dagegen vor der entschlossen vorwärts schreitenden, aber auch kalt blickenden Frau zurückweicht. An die Dardennes erinnert dieses atmosphärisch starke und durch den Dreh an Originalschauplätzen authentisch wirkende Sozialdrama nicht nur durch die Kameraarbeit, sondern auch durch den Verzicht auf Filmmusik, scheint in der toughen Protagonistin, im Blick auf sozial prekäre Verhältnisse und die Mechanismen der Ausbeutung aber auch von Ken Loachs "It´s a Free World" inspiriert.

Der Inszenierung mag es etwas an Dringlichkeit und Verdichtung fehlen, mag mit Fortdauer mehr dahinplätschern als wirklich packende Kraft zu entwickeln, doch eine starke Magarita Breitkreiz in der Titelrolle und vor allem die differenzierte Figurenzeichnung, mit der Erwartungshaltungen düpiert werden, lassen über Schwächen hinwegsehen.

Hier gibt es nämlich keine Schwarzweißzeichnung, sondern auch die vermeintlich auf die Opferrolle festgelegte Marija wird zur Täterin. Geschickt spielt so Koch dem Zuschauer den Ball zu, richtet an ihn die Frage, wie weit er gehen würde, um seine Ziele zu erreichen, und zeigt auch, dass für diese Entschlossenheit ein persönlicher und emotionaler Preis zu zahlen ist.

Fernab von jeder Realität bewegt sich dagegen der Portugiese Joao Pedro Rodrigues mit "O Ornitólogo". Solange Fernando von seinem Kayak aus auf einem nordportugiesischen Fluss Wasservögel beobachtet, bewegt sich der Film noch in gewohnten Bahnen, doch mit einer Kenterung in den Stromschnellen ändert sich das zunehmend.

Nur kurz erweisen sich zwei junge Chinesinnen, die sich auf dem Jakobsweg in einem nebelverhangenen Wald verlaufen haben, nämlich als hilfsbereit, als sie den Verunglückten in einem Teich – offen bleibt, wie er dahin kam – finden und wiederbeleben. Denn schon am nächsten Morgen findet sich Fernando an einen Baum gefesselt und kann der Kastration nur durch Flucht entgehen.

Bald stößt er auf mit Masken von ursprünglichen Völkern bekleidete Männer, die nachts ein Ritual ausführen, trifft einen taubstummen Ziegenhirten namens Jesus, stolpert durch einen Wald mit ausgestopftem Nashorn, Giraffe und Löwe, kommt an Kreuzwegstationen vorbei und wird schließlich von drei barbusigen, lateinisch sprechenden Amazonen gejagt, ehe er sein altes Leben ablegt und zum Heiligen Antonius wird.

Immer alles kann in diesem wortkargen, aber bildstarken Film passieren. Als durchgeknallte, aber sinnfreie Szenenfolge kann man das ansehen, aber auch alles Mögliche hineininterpretieren, denn zahlreich sind die Anspielungen auf die christliche Ikonografie. Vielleicht gibt dieser Film, der in der Tradition von Luis Bunuels "La voie lactée" steht und dem man jedenfalls seine Originalität nicht absprechen kann, ja selbst den Schlüssel zur Betrachtung, wenn der Protagonist gegen Ende vom (ungläubigen) Tomas aufgefordert wird, nicht versuchen zu wollen zu verstehen, sondern einfach zu glauben. – Eine Aufforderung, in der freilich auch wiederum eine bissige Kritik an der katholischen Kirche und der Religion im allgemein gesehen werden kann, die auch auffordert rational nicht erklärbare Dinge einfach hinzunehmen und zu glauben.