Ursula Biemann. Mission Reports

Ursula Biemann (*1955) untersucht in ihren Videoessays und -installationen Themen wie Migration und Geschlechterpolitik vor dem Hintergrund von Globalisierung, Freihandelszonen, virtueller Kommunikation und dem Ausbau der Grenzfestungen hoch entwickelter Staaten. Das Lentos präsentiert vier exemplarische Arbeiten der Zürcherin. Die Künstlerin – auch als Kuratorin, Lehrende und Netzwerkerin international aktiv – bezieht ihr Material aus Videoaufzeichnungen vor Ort, Interviews mit ExpertInnen, aus Archiven und virtuellen Informationsquellen sowie theoretischen Texten.

Die investigativen Videoessays von Ursula Biemann setzen sich mit Themen der Mobilität und der Migration auseinander. In künstlerischen Feldforschungen untersucht die Schweizer Künstlerin umstrittene Territorien der Welt und formuliert komplexe humane Geografien, mit all ihren Nebenwirkungen und undokumentierten Aspekten.

Das Thema der Migration aus Afrika nach Europa ist in den Nachrichten dauernd präsent. Aber wann hat man je Statements von Migranten gehört? Wann hat man je etwas über die Organisation auf den Migrationswegen erfahren? Wann hat ein Journalist auf einem mit Waren und Menschen vollbepackten Lastwagen gesessen, der sich auf die beschwerliche Reise machte? Warum haben die europäische Fischereipraxis und die Uranförderung mit den Flüchtlingsströmen zu tun? Und was denkt ein Schlepper, ein Polizist, ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes über das Thema?

"Sahara Chronicle" zum Thema der Transitmigration nach Europa ist deshalb eine äußerst beeindruckende künstlerische Arbeit, weil sie die Dinge von innen zeigt, auf Augenhöhe mit den Betroffenen – und weil sie dabei ganz sachlich bleibt und ohne weinerlichen Kommentar auskommt. Migration wird nicht als zum Scheitern verurteiltes Spektakel vorgeführt, sondern als alltägliche, historisch, kulturell und ökonomisch bedingte Praxis, die dem logistischen System einer Nischenökonomie folgt. So sind Biemanns Bilder der Reiseabfertigung vor einer großen, lebensverändernden Reise denn auch erstaunlich unaufgeregt – und diese Unaufgeregtheit macht sie umso eindrücklicher.

Die Videoinstallationen sowie die Einkanalvideos von Ursula Biemann verbindet eine konsequente Beschäftigung mit Themen der Mobilität, Grenzen und Migration. Globale Migrationsbewegungen werden vor dem Hintergrund weltumspannender Informationssysteme untersucht. Ursula Biemann hat eine eigene ästhetische Sprache entwickelt, mit der sie Brennpunkte der Welt erforscht, von der kaspischen Ölgeografie zur Transitmigration durch die Sahara, von der amerikanisch-mexikanischen Grenze über den Frauenhandel in Südostasien bis hin zu Flüchtlingslagern im Nahen Osten.

Ursula Biemanns Videoessays zeichnen sich – mit den Worten der Künstlerin – dadurch aus, "dass sie die Makroebene einer distanzierten Reflexion über geopolitische Zusammenhänge mit den lebendigen Mikropolitiken jener Menschen zusammen bringen, die mit den globalen Veränderungen existentiell zu kämpfen haben". Auf ihren Forschungsreisen versteht sich Biemann als "Embedded Artist"; sie bezieht ihre Materialien aus Feldforschung, Videoaufzeichnungen vor Ort, Interviews mit Experten, Materialien aus Archiven und virtuellen Informationsquellen sowie theoretischen Texten.

In einer nicht-linearen, vielschichtigen Erzählstruktur und mit einem weichen, subjektiven Voice-over entstehen Videoarbeiten, die weltweit in Kunstmuseen und Kunsthallen, auf Biennalen – unter anderem in Istanbul, Liverpool, Shanghai, Gwangju, Sharjah, Thessaloniki, San Diego und Sevilla – und Filmfestivals sowie im universitären und aktivistischen Kontext gezeigt werden. Nach ihrer künstlerischen Ausbildung in Boston, Mexico und New York (Whitney Independent Study Program) arbeitet Ursula Biemann neben ihrer Haupttätigkeit als Künstlerin heute auch als Theoretikerin und Kuratorin, initiiert kollaborative Forschungsprojekte und gibt Publikationen heraus. Sie forscht am Institut für Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste und erhielt 2008 im Zusammenhang mit einer Retrospektive im Bildmuseet im schwedischen Umea den Ehrendoktor in Humanwissenschaft der Universität Umea. 2009 wurde ihr der Meret Oppenheim Preis des schweizerischen Bundesamt für Kultur zuerkannt.

Kunst ist für Ursula Biemann ein Medium, um die Welt verstehen zu lernen – weniger im Sinne einer Entdeckung von Unbekanntem, sondern vielmehr von der Idee motiviert, bestehendes Wissen zu einem ästhetischen Komplex zu organisieren, aus dem neue Bedeutungszusammenhänge hervortreten können. Es geht somit weniger um ein Dokumentieren von Wirklichkeit, als vielmehr um ein Organisieren von Komplexität.

Biemanns Videoessays verknüpfen die subjektive Wahrnehmung als Augenzeugin mit Thesen der wissenschaftlichen Theorie aus den unterschiedlichsten Disziplinen. Die historische, politikwissenschaftliche, geografische, soziologische, ethnographische und anthropologische Dimension, die Erkenntnisse der feministischen Theorie und der Postcolonial Studies verknüpft Biemann mit ihrer eigenen Wahrnehmung vor Ort und mit ihren Beobachtungen im Schatten der journalistischen Schlaglichter.

Indem sie wissenschaftliche Theorie mit künstlerischer Praxis verknüpft, hat sich Ursula Biemann ihr eigenes, transdisziplinäres Genre geschaffen. In dieser Verschränkung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Kunst sind die Videoessays von Ursula Biemann eigenständige Beispiele von sinnfälliger Theoriearbeit und von kritischer Kunst.

Wenn eingangs von komplexen humanen Geografien die Rede war, die neu geordnet und organisiert werden, so zielt diese Formulierung darauf ab, dass Biemanns Arbeiten nicht entlang geradliniger Erzählstrukturen zu einfachen Erkenntnissen führen. Im Gegenteil: Sie schärfen das Bewusstsein für Widersprüche, für die Komplexität der Zusammenhänge, für die Unruhe in unseren Weltbildern.

Publikation "Ursula Biemann: Mission Reports. Künstlerische Praxis im Feld. Videoarbeiten 1999–2011". Hrsg. Von Marius Babia, Simon Maurer, Stella Rollig. Erschienen im Verlag für moderne Kunst Nürnberg, 2012 mit Essays von Ursula Biemann, T.J. Demos, Brian Holmes, Jörg Huber, einem Vorwort der HerausgeberInnen und zahlreichen Abbildungen. 208 Seiten, Preis EUR 35,- (Museumsausgabe EUR 28,-). ISBN 978-3-86984-304-9

Ursula Biemann. Mission Reports
10. Februar bis 6. Mai 2012