65. IFFMH: Filme als Fenster zur Welt

Aufregende Entdeckungen konnte man beim 65. Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg (10.11. – 20.11. 2016) machen und gewann Einblicke in ganz unterschiedliche Kulturen und Erzählweisen. Mit dem Grand Newcomer Award Mannheim-Heidelberg wurde Hussein Hassans heftig umstrittene irakische-deutsche Koproduktion "Reseba – The Dark Wind" ausgezeichnet.

Plakat und Katalog des Filmfestivals von Mannheim-Heidelberg werden ebenso wie der Festivaltrailer von einem Rahmen dominiert, durch den sich der Blick auf eine weite grüne Hügellandschaft öffnet. Programmatisch ist dieses Sujet, will das Festival doch nicht nur unbekannte Filmemacher entdecken, sondern dem Zuschauer auch einen Blick in unterschiedliche Regionen der Welt ermöglichen.

Einen feinfühligen und in jeder Nuance stimmigen Film aus Israel präsentierte beispielsweise Nitzan Gilady mit "Hatuna MeNiyar – Wedding Doll". Ganz auf Augenhöhe mit seiner Protagonistin erzählt Gilady darin von der jungen, etwas zurückgebliebenen Hagit, die mit großer Liebe aus Klopapier Hochzeitspuppen bastelt und von ihrer eigenen Hochzeit träumt.

Während sie nach Unabhängigkeit strebt, versucht ihre Mutter aber sie ständig zu überwachen und ihren Freiraum einzuschränken, denn sie weiß, dass Hagit nicht nur im Kindesalter wegen ihrer Behinderung von Spielgefährten schwer misshandelt wurde, sondern immer noch verlacht und gehänselt wird.

Gilady, der vom Dokumentarfilm kommt, erzählt mit genauem Blick für Details. Sorgfältige Bildsprache und feinfühlige Farbdramaturgie sorgen gleichermaßen für Poesie wie für Sinnlichkeit und bestechend wird die Handlung in der großartig eingefangenen, von den Brauntönen der Wüste Negev dominierten Landschaft am Rande des Ramon Kraters eingebettet.

Nichts Großes passiert hier, aber Gilady lässt sich ganz auf seine Protagonistin ein, lässt den Zuschauer, indem er den Einstellungen Zeit lässt, ihre Sehnsüchte und ihr Streben nach Selbstständigkeit mitempfinden. In dieser ruhigen aber einfühlsamen Erzählweise ist „Wedding Doll“ so filigran wie Hagits Puppen und plädiert eindringlich, aber nie aufdringlich für Menschlichkeit und Inklusion und gegen Ausgrenzung.

Eine pechschwarze Balkankomödie gelang dagegen dem Serben Milos Radovic mit "Dnevnik Masinovode – Train Driver´s Diary". Ganz beschaulich scheint es mit einer Zugfahrt durch eine idyllische Landschaft zu beginnen, doch dann steht ein Kleinbus mit Roma auf dem Gleis und jedes Bremsmanöver kommt zu spät: 53 Personen habe er zusammen mit seinem Vater getötet, erklärt der Zugführer Ilija – und das ohne schuldig zu sein, doch er bedaure die Vorfälle.

Bewegung kommt in das Leben Ilijas, als das zehnjährige Waisenkind Sima vor seinem Zug steht und er rechtzeitig bremsen kann. Er nimmt den Jungen bei sich auf, der bald selbst auch – ganz gegen den Willen Ilijas - Zugführer werden will.

Schwärzer als hier kann Humor kaum sein, gleichzeitig ist Radovic´ Blick auf die Menschen aber warmherzig. In warme Sommerbilder taucht er seinen Film, unterstützt Tempo und Stimmung immer wieder durch die Musik. Charme entwickelt diese Tragikomödie aber auch durch liebevolle Details wie das aufgelassene Bahndepot und die Waggons, in denen Ilija und seine Nachbarn wohnen. Auch bissige Kritik an den sozialen Verhältnissen fehlt nicht, aber nie verliert Radovic die Entwicklung des seit einem traumatischen Erlebnis gefühlskalten Ilija und seines Ziehsohnes aus den Augen und lässt einem diese Figuren ans Herz wachsen.

Breit gespannt war die Bandbreite des Wettbewerbs. Die dänische Beziehungstragikomödie "Kaerlighed og andre Katastrofer – Love and Other Catastrophes", die schwungvoll und witzig beginnt, bei der Sofie Stougaard aber mit der Wendung ins Dramatische nicht mehr immer den richtigen Ton trifft, fand sich hier ebenso wie Annick Ghijzelings Essayfilm "27 Times Time".

In der Nachfolge der Filme von Chris Marker spürt die Belgierin darin ausgehend von einem polynesischen Mythos über die Entstehung der Zeit dem Wesen der Zeit nach. In einem assoziativen Bilderfluss, dem vielfältigste Geschichten zur Zeit von Alexander dem Großen über James Cook bis zu Albert Einstein unterlegt sind, bietet Ghijzeling viel Stoff zum Nachdenken, erschlägt den Zuschauer aber auch durch die geballte Fülle an Eindrücken und Gedanken, die in 73 Minuten auf ihn einprasseln.

Das Spannende an diesem Festival ist auch, dass es keine bekannten Namen gibt, man als Besucher sich von jedem Film überraschen lassen kann oder muss und keine Favoriten vorab ausmachen kann. Das kann dann bei einem Festivalaufenthalt von drei Tagen auch dazu führen, dass man die Siegerfilme des 19 Filme umfassenden Wettbewerbs verpasst.

So zeichnete die Jury Hussein Hassans "Reseba – The Dark Wind" mit dem Grand Newcomer Award aus. Schon bei der Premiere kam es zu einem Konflikt, als Demonstranten die Kinobühne stürmten und einen Abbruch der Vorstellung forderten, weil der Film die Haltung der Jesiden zu jesidischen Frauen, die vom "IS" verschleppt und missbraucht wurden, falsch darstelle.

Brandaktuell ist diese kurdische Produktion jedenfalls, die von einem jesidischen Paar erzählt, das durch einen Anschlag des "IS" getrennt wird. Was als Kriegsfilm beginnt, verdichtet sich dabei zum psychologischen Drama, als die Frau nach ihrer Rückkehr ins Heimatdorf von der Familie geächtet wird.

Der Special Newcomer Award für den besten unkonventionell erzählten Spielfilm ging an den türkischen Beitrag "Kasap Havasi – Wedding Dance". Çigdem Sezgin erzählt darin von einem Mann, der kurz vor seiner Hochzeit eine Affäre mit einer anderen, wesentlich älteren Frau beginnt. Sezgin bietet so einen Einblick in die patriarchale türkische Männerwelt, deren Traditionen von modernen Vorstellungen erschüttert werden.

Eine Übersicht über die Preisträger finden Sie hier.