Zeitgenössische Fotografie aus Kanada und den USA

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt die nordamerikanische Fotografie als wegweisend für die zunehmende Etablierung des Mediums als künstlerisches Ausdrucksmittel. Diese Vorreiterrolle ging weitgehend verloren, als die Fotografie in Europa seit den 1980er-Jahren einen eigenständigen Entwicklungsweg einschlug. Als Maßstab war Amerika ab diesem Zeitpunkt für jüngere Künstler:innen nicht mehr verbindlich und geriet aus dem Fokus.

Vor diesem Hintergrund bietet die Ausstellung "True Pictures?" einen umfassenden Überblick über das fotokünstlerische Schaffen der letzten 40 Jahre in Kanada und den USA. Die Bedeutung etablierter Positionen wird ebenso gezeigt wie die Bandbreite der jüngsten Generation von Fotograf:innen. Themen wie Sexualität, Gender und Diversität, aber auch formale Fragen nach geeigneten Präsentationsweisen sowie Überlegungen zu einer Ausweitung des Begriffs des Fotografischen ziehen sich durch die Werke der insgesamt 27 Künstler:innen, die in drei Generationen vorgestellt werden.

"True Pictures?" erzählt die Geschichte der neueren nordamerikanischen Fotografie, stellt Fragen nach ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit und ihrem Wahrheitsgehalt und beleuchtet das Selbstverständnis eines Kontinents und eines Mediums im Wandel.

Erste Generation

Entscheidend für das künstlerische Selbstverständnis der Fotograf:innen war oft die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Mediums. Der Bezug der Fotografie zur Wirklichkeit war Rechtfertigung, gleichzeitig aber auch Anlass zur Kritik – die abstrakte und die inszenierte Fotografie, getragen von den selbstbewussten Fotokünstler:innen seit den späten 1970er-Jahren, haben sich von dieser Kopplung an die Realität befreit. Zu den wichtigsten Vertreter:innen dieser Zeit gehört Cindy Sherman, die sich in ihren ab 1977 entstandenen "Untitled Film Stills" selbst in verschiedenen Rollen inszenierte und auf diese Weise weibliche Stereotypen aus Filmen untersuchte. Eines dieser Film Stills wird später von Laurie Simmons in "Kaleidoscope House # 13" (2000) zitiert. Rodney Graham ist in "Media Studies ’77" (2016) in einer Rolle als dozierender Hochschullehrer, der an den Schauspieler Robert Redford erinnert, zu sehen. Diese Arbeit besteht aus zwei großformatigen Leuchtkästen, einem Medium, mit dem der kanadische Künstler Jeff Wall bekannt wurde. Eines seiner bekanntesten Werke, "The Thinker" (1986), zitiert die Körperhaltung der ikonischen Skulptur "Der Denker" von Auguste Rodin. Die Dokumentation des modernen Lebens, verbunden mit Gesellschaftskritik und Landschaftsfotografie, ist Thema in Anthony Hernandez’ Serie "Landscapes for the Homeless" (1988–1991), in der Menschen nur in Form der Spuren und Abfälle, die sie hinterlassen haben, präsent sind. Allan Sekulas "Untitled Slide Sequence" (1972) ist motivisch an den ältesten Film der Gebrüder Lumière aus dem Jahr 1895, Arbeiter verlassen die Lumière-Werke, angelehnt.

Die Auseinandersetzung mit Massenmedien und deren strategische Aneignung ist Kennzeichen der sogenannten "Pictures Generation", zu der neben Cindy Sherman auch Sherrie Levine und Louise Lawler zählen. Levine eignet sich in "Intérieurs parisiens, After Atget" (1997) sechzig Bilder des französischen Fotografen Eugène Atget an, indem sie diese abfotografiert und damit unter anderem Fragen nach Wert und Wirkung des Originals aufwirft. Lawler untersucht die Mechanismen des Kunstmarktes und die Präsentation von Kunst. Ian Wallace analysiert in "Chelsea Exterior New York II" (2014) den Außenraum der Gagosian Gallery in New York, die eine Fotoausstellung zu Picasso ankündigt. Weitere motivische und thematische Aspekte ergänzen das künstlerische Schaffen der ersten Generation: Die Bandbreite reicht von Nan Goldins Bildern gesellschaftlicher Tabuthemen über Carrie Mae Weems’ Analysen von Rassismus und schwarzer Identität in Nordamerika bis zu den hermetisch abstrahierten Polaroids von James Welling.

Zweite Generation

Bei den neuen subjektiven und medienkritischen Strategien sind erzählerische Ansätze und politisches Engagement häufig, in manchen Arbeiten mischt sich beides. "Exodus, 1975" (2021) von Stan Douglas ist eine detailliert choreografierte und konstruierte Aufnahme, die eine Verbindung zwischen zwei voneinander völlig unabhängigen Ereignissen herstellt: dem Beginn der angolanischen Befreiungsbewegung auf der einen Seite und der New Yorker Partykultur in ramponierten Lofts auf der anderen Seite. Mit anderen bildnerischen Mitteln verhandelt Zoe Leonard das Thema Migration. Für sie ist der prozesshafte Charakter der Entstehung einer Aufnahme wichtig; auch der Bildinhalt ist davon berührt. Für die Serie "New York Harbor I" (2016) hat Leonard Schnappschüsse aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg re-fotografiert. Ken Lum, Sohn chinesischer Immigrant:innen, kombiniert in seiner Serie "There is no place like home" (2000) Bild und Text so, dass die Arbeiten an typische Werbefotos erinnern.

Lorna Simpson stellt in "Corridor (Night)" (2003) die Lebensrealitäten zweier afroamerikanischer Frauen aus verschiedenen Zeiten gegenüber. Neben diversen Formen der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Missständen sind in der zweiten Generation auch medienreflexiv arbeitende Künstler:innen mit Hang zu Opulenz vertreten. Am bekanntesten sind die aufwendig produzierten Bilder von Gregory Crewdson. Ergebnis ist jeweils eine Art Standfoto, bei dem es dem Künstler um den perfekten "gefrorenen" Augenblick geht. Visuell sehr viel unspektakulärer sind die Bildmotive von Christopher Williams, der oft auf Bilder aus der Werbung anspielt und dessen Autorschaft sich meist auf die Auswahl der Motive, die Drucküberwachung und die Gestaltung der Präsentation beschränkt.

Dritte Generation

In einer Zeit, die von digitalen Technologien und der rasanten Verbreitung von Massenmedien mit ihrem kontrollierenden Einfluss auf unsere Wahrnehmung ebenso geprägt ist wie von der zunehmenden Globalisierung der Kunstwelt und der Entstehung von Social-Media-Kanälen, rücken zwangsläufig veränderte Fragestellungen in den Fokus. Im Mittelpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung stehen nun Umweltthemen, politische Umwälzungen, Ungerechtigkeits- und Überwachungssysteme in den USA, das Leben und die Rechte von indigenen Völkern, Geschlechtsidentitäten, Rassismus sowie die Lebenswelten der schwarzen Bevölkerung. Dieses Themenspektrum wird radikal und mit den Mitteln digitaler Technologien untersucht. Ein Künstler, der sich explizit mit dem Entstehungsprozess von Kunstwerken beschäftigt und mit neuen Technologien abstrakte Bilder kreiert, ist Walead Beshty. Er untersucht die Bedingungen und Zusammenhänge, in denen Kunstwerke in einer globalisierten kapitalistischen Gesellschaft hervorgebracht werden, aber auch ihre Schwachstellen. Der Kanadier Owen Kydd interessiert sich ebenfalls für Herstellungsprozesse, die in einem medialen Zwischenraum von Film und Fotografie angesiedelt sind. Seine digitalen Stillleben erforschen die Darstellung der Zeit in Standbildern, die er als "durational photographs" bezeichnet. Mit den Mitteln modernster Technologien, die er gleichzeitig infrage stellt, entwickelt Trevor Paglen konzeptionelle Projekte, die den Blick auf Systeme staatlicher Überwachung, auf künstliche Intelligenz sowie auf Gewalt und Macht lenken. Mit Machtstrukturen und gesellschaftlich-politischen Themen befasst sich auch Taryn Simon. In der Serie "The Innocent" (2000) dokumentiert die Künstlerin mit dem Medium des Fotojournalismus die Geschichte von überwiegend schwarzen vermeintlichen Verbrechern, die zu Unrecht verurteilt wurden. Ayana V. Jackson setzt sich in ihren jüngeren Arbeiten, zu den auch "Anarcha" (2017) gehört, mit dem konventionellen Blick auf schwarze Weiblichkeit im Zeitalter des Kolonialismus auseinander und zeigt auf, wie die Körper schwarzer Frauen erotisiert und exotisch konnotiert werden. In einer ähnlichen Art und Weise untersuchen Martine Gutierrez und Meryl McMaster die Frage, was es bedeutet, eine indigene Frau in den USA bzw. in Kanada zu sein. Gutierrez beleuchtet anhand des eigenen Körpers die Auffassung von Geschlechteridentitäten in unserer Gesellschaft, während McMaster sich in Form von Selbstporträts der Welt der Mystik, der gesellschaftlichen Verwurzelung und der Natur widmet. Wie schon Künstler:innen der "Pictures Generation" greift Anne Collier auf Strategien der Aneignung zurück. Die Vorlage für die Arbeit "Mirror" (2020) entnahm sie – mit veränderten Maßen und Bildausschnitten – einem US-amerikanischen Comic aus den 1950er-Jahren.

*+True Pictures?**
Zeitgenössische Fotografie aus Kanada und den USA
12. März bis 26. Juni 2022
Kuratorinnen: Kerstin Stremmel, Andrea Lehner-Hagwood