Wohltuend klassisch: Roméo et Juliette an der Wiener Staatsoper

Die Inszenierung von Jürgen Flimm, mit beeindruckender Lichtarchitektur anstatt eines Bühnenbildes, hat nach zweiundzwanzig Jahren und über sechzig Aufführungen noch immer höchste Gültigkeit. Die Musik wird unmittelbar zum optisch-emotionalen Erlebnis, Bertrand de Billy trägt am Pult das seine dazu bei.

Es war Direktor Ioan Holender, der vergessene Klassiker wie Roméo et Juliette im Dezember 2001 wiederbelebte, wobei die bis heute zu sehende Produktion gleich zwei "Premieren" beinhaltete: Die Oper wurde erstmals an diesem Haus im französischen Original gegeben (bis in die Mitte der 1950er Jahre war Deutsch als Aufführungssprache obligatorisch), und außerdem in dieser vollkommen neuen, ungewohnten Inszenierung. Jürgen Flimm konnte damals den berühmten englischen Lichtdesigner Patrick Woodroffe (er arbeitete mit zahllosen Pop- und Film-Größen wie ABBA, Bob Dylan, Lady Gaga, Rolling Stones, Michael Jackson, Martin Scorsese etc. zusammen) dafür begeistern. Die Idee war, auf jede kleinste Veränderung der Partitur augenblicklich mit Lichtstimmungen zu reagieren und die entsprechende Atmosphäre zu schaffen. Für das detailreiche Lichtkonzept wurden nicht nur Lichttürme konstruiert und spezielle Scheinwerfer samt einem Lichtpult angeschafft, sondern es brauchte auch einen eigenen Programmierer für die Moving-Lights. Scrollt man die Aufführungsliste zurück, so sind 2006 das Traumpaar Anna Netrebko und Rolando Villazón zu finden, und das letzte Mal, 2017, Plácido Domingo als Dirigent und Aida Garifullina mit Juan Diego Flórez als Liebespaar.

Überraschend modern – nicht modisch, wie jüngst am MusikTheater an der Wien erlebt (siehe kultur online), mit überbordenden visuellen Reizungen. Intensiv und konzentriert folgt diese Opernaufführung den Intentionen des Komponisten Charles Gounod. Die vier Duette der beiden Liebenden stehen im Zentrum, um die sich der Rest der Handlung aufbaut. Roméo ist schockverliebt in Juliette, auf den ersten Blick. Er hat sich mit seinen Freunden beim Fest der verfeindeten Capulets eingeschlichen, ein Affront! Es folgt die berührende Balkonszene: Dunkelblauer Sternenhimmel, die halbkreisförmige helle Fläche (zuerst Juliettes Bett) hebt sich etwas. Der albanische Tenor Saimir Pirgu ist ein berührender Roméo, die US-amerikanische Sopranistin Nadine Sierra eine fantastische Juliette. Hier entfaltet sich der gesamte Liebeskosmos und glaubwürdig wird das Eheversprechen.

Auch die turbulente Szene des Kampfes zwischen den Capulets und den Montagues gerät maßvoll, doch es gibt Tote (wie es das Shakespeare´sche Drehbuch vorschreibt) und Roméo wird verbannt. Eine herzzerreißende Liebesnacht ist dem Paar noch vergönnt … "Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche" … Es gibt auch keine Massenszene anlässlich der erzwungenen Hochzeit, Juliette sinkt einsam nach Einnehmen des Todesschlaftrunks und ihrer wunderschönen Arie zu Boden (der Szenenapplaus will nicht mehr enden). Mit dem finalen Duett („Viens, fuyons au bout du monde / Komm, lass uns bis ans Ende der Welt fliehen“) stirbt das Liebespaar so schön, dass es sich wie ein Happy End anfühlt. Tosender Applaus, wirklich alle sind aufgesprungen und holen die Sängerinnen und Sänger wie auch den Dirigenten unzählige Male vor den Vorhang!

Charles Gounod 
Roméo et Juliette
Opéra in fünf Akten
Text Michel Carré & Jules Barbier nach William Shakespeare

Musikalische Leitung: Bertrand de Billy
Inszenierung: Jürgen Flimm
Bühne und Lichtarchitektur: Patrick Woodroffe
Kostüme: Birgit Hutter
Choreographie: Renato Zanella

Juliette, Tochter Capulets: Nadine Sierra
Roméo: Saimir Pirgu
Stéphano: Patricia Nolz
Tybalt: Daniel Jenz
Benvolio: Juraj Kuchar
Mercutio: Stefan Astakhov
Paris: Andrei Maksimov
Grégorio: Marcus Pelz
Capulet: Wolfgang Bankl
Frère Laurent: Peter Kellner
Le Duc: Dan Paul Dumitrescu