Mit dem Kinderwagen lassen sich viele Geschichten erzählen: Geschichten vom Bedürfnis nach Mobilität und sich ändernden Geschlechterrollen. Von technischen Neuerungen und modischem Design, von Wohlstand und Armut, vom Wandel der städtischen Infrastruktur und dem Siegeszug der Konsumkultur. Die Ausstellung "Baby an Bord. Mit dem Kinderwagen durch das 20. Jahrhundert" verknüpft erstmals den Gebrauchsartikel Kinderwagen mit der Stadtgeschichte. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wer schiebt? Das Kindermädchen? Die Mutter? Oder doch der Vater?
Um 1870 tauchten vermehrt Kinderwägen im Wiener Stadtbild auf – handgefertigte "Luxuskarossen", die fürs Promenieren im Park gedacht waren. Aufstieg des Bürgertums, Industrialisierung und die Pflasterung der Straßen ermöglichten erst die großräumigere Nutzung des Kinderwagens. In ärmeren Kreisen blieb hingegen noch lange das Tragen die vorherrschende Form des Säuglingstransportes. Eine Alternative dazu waren "Leiterwagerln" oder Körbe mit Holzrädern. Erst in den 1920ern sollte der Kinderwagen langsam auch in weniger begüterte Schichten Eingang finden.
Der Kinderwagen war von Anfang an auch ein Lifestyle-Objekt. Mit der gestiegenen Reiselust des Bürgertums waren schon um die Jahrhundertwende zusammenlegbare Modelle, so genannte Sport- oder Wochenendwagen, en vogue. In den 1950er-Jahren erinnerten stromlinienförmige Wägen an amerikanische Straßenkreuzer. Ende der 1960er-Jahre revolutionierte der Buggy die Kinderwagenmode hinsichtlich Gewicht und Mobilität und heute sind schnittige Designermodelle allgegenwärtig.
Die Frage, wer schiebt, ist bis heute mit geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen und traditionellen Familienbildern verknüpft. Erst seit den 1970er-Jahren begannen auch Väter einen Teil des Schiebens zu übernehmen, wenngleich der Alltag mit Kindern und Kinderwagen nach wie vor eine Frauendomäne geblieben ist. Manche bauliche Hürden für Kinderwägen in der Stadt sind heute beseitigt, verschwunden sind aber auch die Hersteller für Kinderwagen, die es einst in Wien gab.
Eine Ausstellung vom 18. Oktober 2007 bis 13. Jänner 2008 im Wien Museum Karlsplatz präsentiert zahlreiche historische Kinderwagenmodelle, darunter Raritäten wie einen 130 Jahre alten Dreiradwagen oder den "Deutschen Einheitskinderwagen" aus dem Jahr 1944. Weiters gezeigt werden u. a. Werbeprospekte von Wiener Kinderwagenerzeugern, private Fotoalben und Interviews. Für die Ausstellung hat der Filmemacher Robert Schabus eine Kinderwagenfahrt durchs heutige Wien festgehalten – ein Statement zum Thema Mobilität in der Stadt aus ungewöhnlicher Baby-Perspektive.
Eine Art "Urkinderwagen" gibt es nicht, zu den Vorläufern zählen Stubenwägen, Fahr- und Krankenstühle, Schubkarren, Leiterwägen sowie kleine Kutschen, die vor allem als Luxus-Spielzeug benutzt wurden. Als Herkunftsland des Kinderwagens gilt England, wo der neue "Perambulator" ab den 1840er Jahren auf den Straßen zu sehen war. In Österreich begann die serienmäßige Produktion in den 1870er Jahren. Als wichtiger Impuls fungierte die Wiener Weltausstellung 1873, auf der etliche Kinderwagenmodelle gezeigt wurden. Um 1900 produzierten etwa 80 Wiener Korbmacherbetriebe Kinderwägen. Neben dem ansteigenden Mobilitätsbedürfnis waren es auch medizinische Gründe, die die Nachfrage nach dem Kinderwagen ansteigen ließen: Mit "Licht, Luft und Sonne" sollte auch der hohen Säuglingssterblichkeitsrate (Tuberkulose und Rachitis) Einhalt geboten werden. Das Urteil eines Zeitgenossen: "In der That ist dieses Kindermöbel nunmehr bei allen civilisierten Völkern als nothwendiges Requisit der Kinderpflege in Gebrauch."
Das "Kindermöbel" war lange Zeit ein Statussymbol der Reichen, das je nach Saison Verzierungen, Muster und neue Formen aufwies. In einem Katalog der deutschen Firma Naether heißt es etwa: "Ganz besonderen anhaltenden Beifalles erfreuten sich die Kinderwagenkörbe mit Zierkugeln und Säulchen. Aber nicht nur das Oberflächendesign, auch die Funktionalität änderte sich rasant. Fußstützen, verstellbare Rückenlehnen, abnehmbare Räder oder zusammenklappbare Reisemodelle wurden angepriesen.
Dass sich in der Zwischenkriegszeit auch Ärmere einen Kinderwagen leisten konnten, war nicht zuletzt Folge eines neuen Metallpressverfahrens, das die industrielle Fertigung deutlich verbilligte. Für die verhältnismäßig günstigen "Blechbüchsen auf Rädern" waren in den Gemeindebauten des "Roten Wien" bereits eigene Abstellflächen vorgesehen. Auch das Freizeitverhalten der Arbeiterschaft änderte sich: Für den Wochenend-Ausflug erwies sich der fahrbare Untersatz für den Nachwuchs als besonders begehrt – notfalls auch in der Gebrauchtwagen-Variante. Beim Design dominierte zunächst Art Déco mit tiefliegenden, in schwarz oder weiß lackierten Wagenkästen.
Unter den vielen Klein- und Mittelbetrieben, die sich in Wien dem Kinderwagenbau widmeten, befanden sich etliche jüdische Handwerker, die nach 1918 aus verschiedenen Kronländern nach Wien geflohen waren. Viele stammten aus klassischen Korbmachergegenden und gründeten in Wien Betriebe in denen auch Kinderwagen hergestellt wurden. Zahlreiche eingewanderte jüdischen Kinderwagenhersteller waren 1938 erneut zur Flucht gezwungen, ihre Betriebe wurden vielfach "arisiert." Als Beispiel dafür wird in der Ausstellung die Firmengeschichte der lange Zeit bedeutendsten Wiener Kinderwagenerzeugung, der Firma "Lumag", aufgerollt, die in der Halbgasse in Wien-Neubau ansässig war.
Im Zuge des Krieges ging die Herstellung von Kinderwägen im gesamten "Deutschen Reich" zugunsten der Produktion von Kriegsgütern immer mehr zurück. Ab 1943 sahen die Pläne der Nationalsozialisten überhaupt nur noch die Produktion des "Deutschen Einheitskinderwagens" vor. Es handelte sich dabei um ein Billigprodukt, das leicht kippte, ästhetisch anspruchslos war und nur zehn Kilo wog: "Die Gewichtserleichterung bringt nicht nur Materialersparnis, sondern bedeutet beim Tragen über Treppen, insbesondere bei Luftgefahr, einen Vorteil für die Mütter. Allerdings verbietet diese Leichtbauweise, dass er zum Kartoffeltransport benutzt wird", so das zeitgenössische "Marketing".
Immer wieder wurden Kinderwägen zweckentfremdet: Nach 1945 zum Beispiel für "Hamsterfahrten" und den Abtransport von Schutt. Wer sich bereits in den 1950er Jahren einen Kinderwagen leisten konnte, der nutzte ihn hauptsächlich für kleinere Ausfahrten in der Umgebung. An eine Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel mit den sperrigen, schweren Modellen war jedenfalls nicht zu denken. Als Revolution erwies sich seit 1969 der zusammenfaltbare, drei Kilo leichte "Buggy". In den zusammenklappbaren und kofferraumtauglichen "Sportwagerln" mit Namen wie "Capri", "Grado" oder "Nizza" spiegelte sich gleichermaßen der Traum vom Urlaub an der Adria.
Die Fitnesswelle brachte "Jogger-taugliche"-Modelle, heute sind Designerprodukte à la "Bugaboo" Statussymbole. Dem steigenden Mobilitätsbedürfnis wurde immer mehr auch von städtischer Seite entsprochen, sei es durch abgeflachte Gehsteigkanten, Niederflur-Straßenbahnen oder den nachträglichen Einbau von Aufzügen bei den U-Bahn-Stationen.
Katalog: Baby an Bord. Mit dem Kinderwagen durch das 20. Jahrhundert. Hg.: Werner Koroschitz, Lisa Rettl, Uli Vonbank-Schedler. Im Auftrag des Wien Museums, Czernin Verlag, Wien 2007, ca. 180 Seiten
Baby an Bord
Mit dem Kinderwagen durch das 20. Jahrhundert
18. Oktober 2007 bis 13. Jänner 2008