Von jeder Erdenschwere befreit: Filmmusicals

Plötzlich beginnen die Protagonisten zu singen, tanzen auf den Straßen. – Das Musical ist zweifellos nach dem Märchenfilm das eskapistische Genre der Filmgeschichte, begeistert aber immer wieder mit fulminanten Tanz- und Gesangsszenen, die den Zuschauer federleicht aus dem Kino schweben lassen. Das St. Galler Kinok lädt mit Klassikern wie "An American in Paris" oder "West Side Story" zu einem kleinen Streifzug durch das Genre ein.

Wie Dorothy im Klassiker "The Wizard of Oz" (Victor Fleming, 1939) aus dem Schwarzweiß der grauen Farm in Kansas im Traum in ein buntes Märchenland flüchtet, so entführt das Musical den Zuschauer meist aus dem Alltag in eine farbenprächtige Traumwelt. 17 Minuten dauert so der Tagtraum, in dem Gene Kelly in "An American in Paris" (Vincente Minnelli, 1951) zu George Gershwins titelgebender Musik in verschiedenen Szenen, die visuell jeweils nach einem anderen französischen Maler gestaltet sind, durch Paris tanzt und von seiner Geliebten träumt.

Aber auch im Alltag beginnen im Musical die Menschen, von der Liebe ergriffen und dadurch der Welt quasi enthoben, plötzlich zu singen und tanzen. Wenig Freude bereitet in der Regel ein Regenguss, doch in "Singin´ in the Rain" (Stanley Donen / Gene Kelly, 1952) lässt sich Gene Kelly davon stören, sondern beginnt sogar in den Pfützen herumzuspringen, zu tanzen und auch eine Straßenlaterne in sein völlig gelöstes Spiel einzubauen.

Gefühle, die mit Worten nicht angemessen ausgedrückt werden können, sollen mit Gesang und Tanz in diesen Filmmusicals vermittelt werden, doch daneben gab es auch von Anfang an so genannte Back Stage Musicals, die vor dem Hintergrund der Proben für eine Show oder ein neues Musical spielen und so Gesang- und Tanznummer einbauen.

Schon der erste abendfüllende Tonfilm "The Jazz Singer" (Alan Crosland, 1927) enthielt zehn Liedeinlagen, mit "Broadway Melody" (Harry Beaumont, 1929) wurde zwei Jahre später der erste "all–talking, all-singing, all-dancing film" präsentiert, der auch als Prototyp des Back Stage Musicals gilt. Die Handlung um eine junge Sängerin und Tänzerin, die Karriere machen möchte, fungiert dabei oft nur als Aufhänger für Musik- und Tanzrevuen.

Busby Berkeley wurde mit seinen furiosen Choreographien für Filme wie "42nd Street" (Lloyd Bacon, 1933) oder "Golddiggers of 1933" (Mervyn LeRoy, 1933) zum Meister dieser Spielart des Musicals oder Revuefilms. Das Individuum tritt dabei zugunsten eines großes Ensemble von TänzerInnen ("Chorus"), die zu immer wieder neuen geometrischen Formen angeordnet werden, in den Hintergrund. Mitten hinein versetzte er dabei den Zuschauer durch den Schnitt und eine Kamera, die gleichsam mittanzte.

Ausgespart wird nicht nur in diesen Filmen, die in der Show-Welt spielen, sondern in den meisten Musicals die Realität. Gerade deswegen waren sie freilich auch zur Zeit der Weltwirtschaftskrise ein großer Erfolg, denn konnte man hier für wenig Geld aus einem von Arbeitslosigkeit und Not geprägten Alltag in eine heile Traumwelt.

Ein Gegenpol zu den Revuefilmen Berkeleys entwickelte sich ab Mitte der 1930er Jahre mit den Filmen des Tänzers Fred Astaire. Statt spektakuläre Massenszenen steht hier der Tanz des eleganten Gentleman mit seiner Partnerin – in den 1930er Jahren meist Ginger Rogers – im Zentrum und die Story ist nicht nur Aufhänger für die Tanzszenen, sondern letztere entwickeln sie aus der Erzählung heraus.

Während Berkeley Kamera und Schnitt mobilisierte, um maximale Wirkung zu erzeugen, fängt die Kamera in den Filmen von Astaire/Rogers meist in einer langen, möglichst ungeschnittenen Einstellung den Tanz ein. Nicht filmische Finesse, sondern vielmehr das Können des Tänzers ist hier gefordert. – Und Astaire verstand es natürlich die Erwartungen nicht nur zu erfüllen, sondern meistens zu übertreffen.

Neuen Schwung verlieh dem Genre einerseits der Einsatz von Farbe, der mit "The Wizard of Oz" Einzug hielt, andererseits der Produzent Arthur Freed, der die Musical-Abteilung von MGM ausbaute und zahlreiche Erfolge wie "An American in Paris", "Singin" in the Rain" und "Gigi" (Vincente Minnelli, 1958) auf den Weg brachte. In Vincente Minnelli fand Freed aber auch einen genialen Regisseur, der diese Projekte umsetzen konnte. Dazu kam mit Gene Kelly ein neuer Typ des Tänzers, bei dem an die Stelle der Eleganz von Astaire ein kraftvoller Stil und akrobatische Elemente traten.

Quer durch die Geschichte lässt sich das Musical dabei in drei Subgenres unterteilen. Neben dem Show Musical oder Backstage Musical, das in der Theater- oder Filmwelt spielt und in dessen Zentrum meist die Produktion eines neuen Musicals, einer Show oder eines Films steht ("Singin´ in the Rain"; "The Band Waggon", Vincente Minnelli, 1953) gibt es das Fairy Tale Musical und das Folk Musical.

Während das Fairy Tale Musical in eine utopische oder märchenhafte Welt entführt ("The Wizard of Oz"; "Brigadoon", Vincente Minnelli, 1954; "Mary Poppins", Robert Stevenson, 1964), steht das Folk Musical, das sich in erste Linie mit der amerikanischen Geschichte beschäftigt, vor allem unter dem Einfluss von Broadway-Produktionen. Beispiele hierfür sind "Showboat" (George Sidney, 1951), "Oklahoma" (Fred Zinnemann, 1955) und "Carousel" (Henry King, 1956).

Mit dem Niedergang des klassischen Hollywoodkinos in den 1960er Jahren und der zunehmenden Bedeutung von Rock´n´Roll und Popmusik nahm auch die Popularität des Musicals ab. Grund dafür waren aber wohl auch ein nüchternerer Blick auf die Wirklichkeit und wachsendes Interesse an der gesellschaftlichen Realität.

Die bittersüße Geschichte um das Blumenmädchen Eliza in "My Fair Lady" (George Cukor, 1964) wusste zwar noch – nicht zuletzt dank Audrey Hepburn und Rex Harrison- zu bezaubern, aber insgesamt konnte das Musical ab den 1960er Jahren nur noch reüssieren, wenn es sich stärker der Realität zuwandte.

Leonard Bernstein war hier wegweisend, indem er in "West Side Story" die klassische Liebesgeschichte von Romeo und Julia aus Verona nach New York verlegte und aus den verfeindeten Adelsfamilien Bandenkämpfe zwischen "weißen" Amerikanern und Immigranten aus Puerto Rico machte.

Aber auch die Verbindung verschiedener Musikstile wie Jazz, klassische Oper und lateinamerikanische Tanzmusik wies neue Wege. Kongenial verfilmten Robert Wise und der Choreograph Jerome Robbins schon vier Jahre nach der Uraufführung am Broadway dieses Musical (1961) und landeten einen mit zehn Oscars ausgezeichneten Welterfolg.

Während old fashioned Musicals wie "Hello Dolly" (Gene Kelly, 1969) floppten, gelangen mit Adaptionen gesellschaftlich relevanter und musikalisch moderner Broadway Hits, die den Nationalsozialismus ("Cabaret"; Bob Fosse, 1972), Vietnamkrieg ("Hair"; Milos Forman, 1979) oder die Hippiebewegung ("Jesus Christ Superstar", Norman Jewison, 1973) thematisierten, einzelne Erfolge. Beinahe immer griff man seit den 1960er Jahren auf Bühnenerfolge zurück, eine rare Ausnahme bildet "La La Land" (2016), mit dem Damien Chazelle eine fulminante Hommage an das klassische Hollywood-Musical der 1950er Jahre – an dessen Farbenpracht, dessen Eskapismus und dessen grandiose Tanzszenen - gelang.

Ausschnitt aus "Singin´ in the Rain"