Viennale 2014: Ach wär´ich doch ein Vögelein

Vom packenden russischen Drama "Leviathan" über die New Yorker Obdachlosengeschichte "Heaven Knows What" bis zum dialoglosen ukrainischen "Plemya – The Tribe" standen bei der heurigen Viennale immer wieder bedrückende gesellschaftliche Verhältnisse im Mittelpunkt. Kein Wunder, dass sich hier mancher Protagonist wünschte, wie ein Vogel dem Alltag zu entfliegen.

Auf einen Nenner lässt sich das Programm eines Festivals wie der Viennale, das Spielfilme ebenso wie Dokumentarfilme, große Arthouse-Produktionen ebenso wie ästhetisch avancierte und nicht leicht zugängliche Filme zeigt, nie bringen. Der Blick ist hier immer subjektiv, bestimmt von der persönlichen Filmauswahl.

Komödien mag es im Programm durchaus geben, auffallend ist aber doch, wie man quer über den Globus verteilt immer wieder auf bedrückende Gesellschaftsbilder stößt. Idyllisch liegt in Andrei Zvyagintsevs "Leviathan" das Dorf zwar an der arktischen Barentsee und majestätisch sind die Landschaftsaufnahmen, aber nicht nur das hier herrschende Klima, sondern auch die Schiffwracks an der Küste und das Gerippe eines Wals stimmen auf ein dunkles Drama ein.

Im Mittelpunkt steht der Automechaniker Kolya, von dessen Haus man einen prächtigen Blick über die Küste hat. Gerade auf dieses Grundstück hat es nun aber der Bürgermeister abgesehen und will Kolya enteignen. Dieser wiederum hat einen befreundeten Anwalt aus Moskau zu Hilfe gerufen, der den Bürgermeister mit Informationen über verbrecherische Geschäfte unter Druck setzt. Doch nur kurz lässt sich der Bürgermeister in die Enge treiben, holt dann Rat bei der Kirche und setzt seine Helfer ein.

In starken Landschaftsaufnahmen und kompromissloser Inszenierung zeichnet Zvyagintsev dicht und packend einerseits eine private Tragödie, andererseits freilich auch eine Parabel auf ein durch und durch korruptes Russland, in dem das Individuum wie der biblische Hiob auf verlorenem Posten steht gegen einen Staat, der wie in Thomas Hobbes staatstheoretischer Schrift "Leviathan" ein Monster ist. Ein Bild von Putin im Büro des Bürgermeisters reicht hier, um deutlich zu machen, um was es Zvyagintsev geht, wer hier kritisiert wird.

Stark in der Milieuschilderung und überzeugend gespielt ist auch "Heaven Knows What" der Brüder Benny und Joshua Safdie. Nach Arielle Holmes´ unveröffentlichtem Roman "Mad Love in New York City" erzählen sie mit Holmes selbst in der Hauptrolle vom Leben einer obdachlosen Drogensüchtigen in New York. Schwer kann man sich freilich mit dem fehlenden Handlungsaufbau und der sprunghaften Szenenfolge tun, die freilich wieder mit dem ziel- und strukturlosen Leben der Protagonisten korrespondieren.

Macht Arielle Holmes realer Aufstieg zur Autorin und Schauspielerin deutlich, dass ein Ausstieg aus diesem Milieu möglich ist, so entlässt der Ukrainer Myroslav Slaboshpytskiy den Zuschauer aus seinem Langfilmdebüt "Plemya – The Tribe" ohne Hoffnung. Ein Insert vor dem ersten Bild gibt schon vor, was einen die nächsten 132 Minuten erwarten wird: Nur in Gebärdensprache wird gesprochen werden. Es wird keinen Dialog, kein Voice-over und auch keine erklärenden Untertitel geben.

Als erste Einstellung folgt eine lange statische Totale einer Bushaltestelle. Die Kamera steht auf der anderen Seite der Straße, der Verkehr verstellt immer wieder den Blick auf einen jungen Mann, der aus dem Bus ausgestiegen ist. Bei einer Passantin erkundigt er sich in Gebärdensprache offenbar nach dem Weg. Dann folgt ihm die Kamera über Treppen zu einem halbverfallenen großen Gebäude – offensichtlich eine Schule oder ein Jugendheim für Gehörlose. Die Herbststimmung mit Laub und kaltem Licht verstärkt die triste Atmosphäre, bald wird es mit Schnee noch kälter werden.

Doch hier herrscht nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich Kälte, wie der junge Mann bald erfahren wird. Ein Trupp älterer Jungs hat das Sagen, die Jüngeren haben zu gehorchen, werden gemobbt und verprügelt, zwei Mädchen werden auf einem LKW-Parkplatz immer wieder den Fernfahrern angeboten.

So trist das Milieu, so brutal der Überlebenskampf ist, so sehr auf der Handlungsebene Sozialrealismus dominiert, so sehr steht die nach Kunstfertigkeit strebende Form zu dieser harten Welt in Kontrast. Denn Slaboshpytskiy erzählt in ausgefeilten langen Plansequenzen. Mal ist die Kamera dabei statisch, dann folgt sie wieder den Protagonisten in langen Parallelfahrten oder steigt endlos in Spiralbewegung mit ihnen ein Treppenhaus hinaus.

Mehr noch als die Gehör- und Sprachlosigkeit, durch die die Charaktere einem kaum nahe kommen und fremd bleiben, sorgt diese Form für Distanz und Kälte. Entsetzt blickt man von außen auf ein nur schwer erträgliches Geschehen, zu dem auch eine in einer einzigen langen Einstellung gefilmte brutale Abtreibung gehört, doch emotional berührt wird man kaum. – Ein formal äußerst konsequenter, aber kalter und in seiner Kälte lähmender und verstörender Film über eine kalte Welt, in der alle Ordnungskräfte abwesend sind und es nur Gewalt und Sex zu geben scheint.

An Job und Alltag droht auch einer der Protagonisten in Pascale Ferrans "Bird People" zu zerbrechen. Fulminant ist die Exposition, in der lange offen bleibt, in welche Richtung sich der Film entwickeln wird und Ferran nur das Gewirr an Stimmen, Small-Talk, Telefonaten, Gedanken und Musik der Fahrgäste eines Zuges vom Pariser Stadtzentrum zum Flughafen Charles de Gaulle einfängt. – Alle sind hier auf engem Raum unterwegs und doch ist jeder für sich allein.

Am Flughafen wiederum kommt der Amerikaner Gary an, steigt dort in einem Hotel ab, hat als IT-Experte einen Geschäftstermin und soll dann nach Dubai weiterreisen. Doch nachts wird er von Panikattacken geschüttelt, kündigt am folgenden Tag telefonisch den Job, erklärt seiner konsternierten Frau per Skype, dass er sie und die Kinder verlassen und ein neues Leben beginnen wird.

Konzentriert sich der Film in diesen Szenen weitgehend auf das Hotelzimmer Garys und dokumentiert statisch die Telefonate, so ändert sich die Tonlage im zweiten Teil, in dessen Mittelpunkt das Zimmermädchen Audrey steht völlig. Auch Audrey ist, zwischen Job und Studium schwankend, nicht wirklich zufrieden mit ihrem Leben, doch erfährt sie in einer herrlichen Wendung, wie befreit das Leben sein könnte und die Kamera fliegt plötzlich – und vielleicht auch zu ausgiebig – über den Flugplatz und um das Hotel und schaut den Gästen bei ihrem Treiben zu.

Während Ferrans verspielter und märchenhafter Film den Zuschauer damit federleicht aus dem Kino entlässt, gibt es für Marion Cotillard im meisterhaften Sozialdrama "Deux jours, une nuit" der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne nur einen kurzen Moment, in dem sie das Gezwitscher eines Vogels von dieser Befreiung träumen lässt. Denn nur ein Wochenende bleibt ihr Zeit 16 Arbeitskollegen zu überreden, auf eine Prämie zugunsten ihres Jobs zu verzichten.

Ohne Schnörkel und ungemein dicht erzählen die Dardennes mit einer grandiosen, in jeder Szene präsenten Cotillard von Solidarität in Zeiten, in denen die Firma die Entscheidung über Arbeitsplatz oder Entlassung an die Angestellten delegiert. Zwar beschränken sich die Dardennes darauf ihre Protagonistin eine Liste abklappern zu lassen, aber nie gleitet „Deux jours, une nuit“ dabei ins Repetitive ab, sondern öffnet stets neue Problemfelder und Blicke. – Ein makelloser, ungemein kompakter und sozial engagierter Film, bei dem den Dardennes auch das Kunststück glückt, ihn weder beschönigend noch niederschmetternd enden zu lassen.