Vergesslichkeit

Vergessen und Vergesslichkeit wird im Allgemeinen als negativ gesehen, als Fehlleistung. Es gibt gute Gründe dafür. Jemand vergisst die Zigarette zu löschen, schläft ein und setzt sein Bett unter Feuer, jemand vergisst das Haus abzusperren und ermöglicht den leichten Einstieg für Unbefugte, jemand vergisst eine wichtige Verabredung und versäumt eine weitere Chance, jemand tritt zu einer Prüfung an und hat sein Wissen vergessen, versagt.

Wir kennen auch das Vergessen in Form von Schlampigkeit oder Übersehen, das sich dann in herbeigeführten Katastrophen wie in Tschernobyl oder Fukushima äußert. Auch das kollektive Vergessen kann zu einem Problem werden, weshalb es Trainingsprogramme gibt: „Niemals vergessen“.

Die Devise ist ein gutgemeinter Appell, aber völlig unrealistisch. Würde sie der Einzelne befolgen, könnte er z. B. nie von Krankheiten gesunden, hielte permanent den Schmerz wach, zerriebe sich seelisch. Andererseits können Traumata nicht einfach über Vergessen getilgt werden. Es gibt also unterschiedliches Vergessen; nicht jedes Vergessen ist negativ, nicht jedes Erinnern positiv.

Eine anscheinend harmlose Vergesslichkeit prägt unseren gesellschaftlichen Alltag. Das sogenannte öffentliche Bewusstsein vergisst relativ schnell. Die Publika von Massenmedien scheinen sehr vergesslich, weil sie permanent Gleiches konsumieren und sich trotzdem nie langweilen, weder an den stereotypen Talk-Shows (wo die „Talks“ als Show immergleich gezeigt und vorgespielt werden), noch an den immergleichen Serien. Sie vergessen auch leicht politische Programme und Aussagen prominenter Politiker, lassen sich mit Stehsätzen und tradierten Sprüchen abspeisen und prüfen nicht wirklich die Einhaltung von Versprechungen oder fundamentalen Behauptungen.

Rituale scheinen ein Nichtvergessen darzustellen, eine Art von Vergegenwärtigung oder gar Beschwörung. Aber allzu leicht bieten sie sich als leere Form, als Klischee, an und erlauben, nicht nur neben den rituellen, schier unbewussten Handlungen, sondern durch sie eine eigentümliche Art von Vergessen. Das prägt die instrumentalisierte Gedächtniskultur, das zeichnet religiöse und profane Rituale aus.

Neujahr zum Beispiel. Wer nimmt sich nicht Änderungsprogramme vor? Wie stereotyp sind die Wiederholungen, die abgespulten Formeln, die ausgeleierten Redewendungen, die repetitiven Gesten! Fiele es jemanden auf, wenn man alte, frühere Neujahrsreden und –wünsche ausstrahlte oder über social media in Verkehr setzte?

Vergessen kann man nur, was man weiß oder wusste. Schlimm der Fall, dass man etwas erst gar nicht erlangt oder sich aneignet, Bildung zum Beispiel, weshalb dieses Nichtwissen, diese Unkenntnis auch nicht vergessen werden kann. Vielleicht sind die Unbildungsmaßnahmen, die hohen Anstrengungen, Un- und Halbbildung zu vermitteln und zu festigen insgeheim Strategien, dem Vergessen den Vergessensgrund zu nehmen? Wer nichts hat, kann nichts verlieren. Eine besondere Freiheit. Wissen kann, wie Besitz, belastend sein. Unwissen erscheint da wie eine Erleichterung. Nichtwissen ist einfach unvergesslich.

Natürlich braucht es Expertise und Kenntnisse. Das wird nicht übersehen oder vergessen. Spezial- und Detailkenntnisse werden gelehrt, befolgt, ausgeführt. Die bringen auch etwas. Aber die werden, wie die genau definierten Kompetenzen, präzise unterschieden, aufgeteilt, abgesteckt. Es ist das, was man früher Bildung und Reife und Persönlichkeit nannte, was von einigen vergessen wurde und dessen die meisten sich nicht erinnern können, es nicht vergessen können, wie sie es nie erlangt haben.