Ungleichheit durch Sprachunterschiede

In gleichheitsversessenen Zeiten und Gesellschaften wird Talent beargwöhnt und hohe Könnerschaft als elitär abgewertet, weil sie die Chancengleichheit der minder Bemittelten schwäche und reduziere. Das zeigt sich auch in der Sprache, im Spracherwerb, dem Sprachunterricht und der Sprachpflege. Das früher als erstrebenswert gesehene Ziel, durch Bildung das Niveau zu heben, wird als untauglich verworfen, weil es zu zeitaufwendig und zu teuer komme. Leichter ist es, das Niveau zu senken und die mindere Sprachkenntnis zur Norm zu machen.

Das ist zwar noch nicht die offizielle Unbildungsdoktrin, aber entspricht oft der faktischen "Bildungsarbeit". Um die armen benachteiligten Opfer nicht auszugrenzen, soll weiter vereinfacht werden, soll eine Komplexitätsreduktion helfen, sollen Kurzsprech und Kurzdenk zur anerkannten Norm führen. "Rede, wie dir der Schnabel gewachsen ist.", war früher schon ein dummer Spruch, weil niemand einfach nach dem gewachsenen Schnabel redet, sondern nach dem langwierigen Spracherwerbsprozess, der komplexen Sprachsozialisation, die nicht von der sozialen abgekoppelt verläuft. Wenn das Sprichwort metaforisch diesen Sachverhalt meinte, mochte es ja noch verständlich sein. Meist diente es einem irrigen Authentizitätsverständnis.

Die Lesefähigkeit nimmt laufend ab. Viele Schulabgänger können keine längeren Texte korrekt lesen, das heisst, verstehen. Sie vermögen zwar Worte zu entziffern, aber sie haben keine Lesekenntnis, um den Sinngehalt rasch zu erfassen. Ich weiss von etlichen Lehrkräften an Haupt- oder Polytechnischen Schulen, die von aggressiven Aversionen ihrer Schülerinnen und Schüler berichten, wenn es um die Zumutung geht zu lesen.

Die kürzlich von der deutschen Kanzlerin Merkel verlautbarte Bildungsoffensive wurde von namhaften Vertretern der Wirtschaft mit dem trockenen Hinweis unterstützt, dass zu viele Lehrlinge einfach nicht in der Lage sind zu lesen und zu schreiben, geschweige zu verstehen. Die also die Lehrausbildung nicht schaffen können. Die mit ihrer Unkenntnis und bornierten Sturheit der Dummen sich ihre ausweglose Situation verstärken, sich selber Wege in die Zukunft verbauen. Die Lamentos gegen Schule und Lehrer helfen vielleicht kurzfristig Frustrationen wegzuschwätzen, nicht aber, das Problem zu lösen. Man kann Bildung bzw. überhaupt die Motivation und den Willen sich zu bilden, niemandem einfach einimpfen.

In Österreich hat eine Maturaschule, die den Versagern, nicht nur aus der unteren Gesellschaftsschicht, gezielt kurzfristiges Prüfungswissen einbläut, ziemlichen Erfolg. Ihr Logo zeigt ihr Unbildungsverständnis bemerkenswert offen: einem über den Tisch gebeugten Schüler impft der Lehrer das nötige Wissen mit einer Spritze ein. In der Realität sieht das anders aus. Nicht zuletzt deshalb, weil solches Unbildungsdenken nicht zu nachhaltiger Bildung führen kann. Bestenfalls hilft es, die Prüfung zu "meistern". Entsprechend schlimm sehen die späteren "Profile" aus.

Die meisten Massenmedien, vor allem die erfolgreichen, bemühen sich seit Jahren um eine Anpassung an das niedere Niveau. Einerseits können sie ihre Produkte leichter verhökern, andererseits kriegen sie leichter ihre Journalisten, die eben in diesem restringierten Sprachkode "daheim" sind.

Wenn sich sprachliche Armut mit geringem Wissen verbindet, es ist nicht verwunderlich oder überraschend, dass die Perpetuierung der Dummheit so erfolgreich fortschreitet. Sie fällt nicht als abweichend auf, da zur Norm geworden.

Ich habe in einem Seminar für Lehrer einmal eine Übung gemacht, in welcher Textpassagen aus verschiedenen Zeitungen analysiert wurden: Wortschatz, Worthäufigkeit, Satzbau, gewisse grammatikalische Aspekte (Konditionalsätze, Konjunktive, Deklinationen, Beugungen, Tempi etc.). Im deutschsprachigen In- und Ausland waren Spracharmut und simple Kurzsätze vorherrschend. Allerdings war in einigen ausländischen Zeitungen häufiger auch "gehobeneres Deutsch" zu finden.

Hätten wir Radiosendungen aufgezeichnet und transkribiert, wäre das Ergebnis noch negativer ausgefallen. Bei einigen Hörproben, die kurz zu bewerten waren, überhörten viele Lehrer, die ja trainiert sind, Sprachfehler (nicht Sprechfehler!). Es ist zu vermuten, dass das gros der Hörer noch mehr überhört. So schleifen sich Ungenauigkeiten ein, man gewöhnt sich an Fehler und Schlampereien und passt sich schliesslich an. Einmal wurde ich wegen meines korrekten Genetivgebrauchs korrigiert, oftmals verstehen Hörer Konjunktive nicht. Haben Sie im Radio "wegen deiner" oder "wegen dir" gehört? Werden sie verdutzt angesehen, wenn sie als Konjunktiv "brauchte" und nicht das zur Gewohnheit gewordene "bräuchte" sagen? Die Liste liesse sich fortsetzen.

Neben diesen Kleinigkeiten gibt es aber das sehr tiefgehende Problem der Illiterarität. Die Problematik wird verschärft durch gewisse Standpunkte, die die Bedeutung der Literarität überhaupt in Frage stellen. Viel Ideologie fliesst in etliche Diskussionen, die die "alte" Bildungsauffassung als eurozentrisch oder elitistisch denunzieren. "Was sich sagen lässt, lässt sich einfach sagen." Das stimmt nur bedingt. Viele wollen es aber unbedingt. Und das hilft die Ungleichheit zu vertiefen, – mit der nachfolgenden Forderung nach weiteren Simplifikationen. Ein Irrweg.