Umwertungen

Retuschen von Bildnissen oder Texten wurden im Westen früher als besonders infame Praxen totalitärer Regime kritisiert. Was auf den Spielplan gelangte, war nicht nur kulturell bedeutungsreich, sondern auch gesellschaftlich, politisch. Aber besonders die Deutungen, das "Wie" der Inszenierungen, der Interpretationen von Kunst, Theater, Oper oder Literatur war von eminenter Aussagekraft. Daran konnte man die Strenge der Zensur einerseits, die Interpretationsvorgaben gemäß der beanspruchten Deutungshoheit andererseits ablesen.

Wenn heute im sogenannten Regietheater Halbgebildete als Fledderer, die kein eigenes Stück zu kreieren vermögen, sich an Klassikern vergehen, kürzen, umstellen, umwerten, extrem ändern, aber immer noch Bezug auf den Klassiker nehmen, wird das als genial, kritisch, kreativ gesehen. Deshalb applaudieren gar nicht wenige der Verhunzung eines Trauerspiels von Goethe durch Stephan Kimmig, weil sie seiner Meinung sind, dass die alte Mär niemanden mehr interessiere, dass man sie gegen den Autor, gegen den Text lesen und inszenieren müsse, damit sie etwas hergebe. Der Name scheint noch etwas herzugeben, sonst würden solche Fritzen wie Kimmig sich nicht solcher Vorlagen bedienen.

Claus Guth beweist mit seiner Inszenierung und Deutung von Beethovens Fidelio bei den Salzburger Festspielen, dass Werktreue vielleicht bei den Noten noch irgendwie zu beachten sich lohnt, nicht aber beim Libretto, beim Stück. Das baut er um, denn der Sinn, den der Komponist durch die Vertonung der Textvorlage transponieren wollte, darf nicht gelten, der ist veraltet, obsolet, ungültig. Wir dürfen heute kein happy end goutieren, wir müssen die Dinge auf den Kopf stellen, revolutionär sein. Warum dann eine alte Oper inszenieren? Warum nicht selber eine neue, zeitgenössische, verwegene schreiben?

Weil Herr Guth das nicht kann. Weil es leichter ist, in den Stückvergewaltigungen als kühner Kreator vom Publikum, das mehrheitlich noch bornierter, beschränkter ist, als Leute wie Guth und Kimmig, verkannt und gefeiert zu werden. Klamauk, billige Burleske und Pseudoclownerie als Ausweis künstlerisch hochwertiger Arbeit. Da sind die Werte tatsächlich auf den Kopf gestellt und verblüffen einige wie die großformatigen Bilder des Baselitz. So einfach geht das. Wann hängen die noch kühneren Artisten leere Rahmen? Zeigen nur noch die Einfassung des Potentiellen, lassen die Leere sprechen und dröhnen? Wann werden alte, aber bekannte Autoren, Klassiker, nur noch genannt, aber nicht mehr gespielt, weil es mit dem alten Scheiß‘ sich ausgespielt hat, da der alte Sinn verkam und abstarb, weil wir Modernen zu anderen Geräuschen zucken und rucken.

Warum nicht Kafka anders inszenieren, sein Werk umwertend? Also mit happy end, weil es im Original nur Düsternis und hoffnungslose Fragwürdigkeit gibt. Warum seine Beziehungsprobleme nicht als perverse Sexshow in einem richtungsweisenden Revuetheater darbieten, gemischt mit Albträumen von ehemaligen KZ-Häftlingen, die wieder zur Sprache fanden, die aber vom smarten Regisseur bearbeitet wird, "modernisiert", hergerichtet für das telegene Stammeln und Stottern.

So ließen Rabelais, Moliere, Shakespeare, Schiller, Goethe, Büchner mit alten Griechen sich mixen, so ließe das Mixgebräu mit Anspielungen aus unserer Zeit sich verknüpfen, was zu einer triefenden Supergaudi würde, wie sie jene, die in den Schranken der Vernunft noch denken, nie erträumen könnten. Der Fledderer als Befreier, als Sinnbringer, weil Umwerter, der den Nerv der Zeit trifft und ausdrückt. Ich wünschte, er und sein Gefolge würden nicht nur ausdrücken, sondern sich verdrücken. Es sollte sie ein- und erdrücken. Das wäre ihnen zu wünschen!