Paul Gauguin (1848-1903) soll in dieser Ausstellung als einer der Künstler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgestellt werden, die das Bild über die gesehene Wirklichkeit hinaus zum autonomen Kunstwerk führten. Gauguin war es, der Malerei nicht als Wiedergabe der Natur, sondern als Darstellung von Stimmungen, Archetypen und Emotionen verstand.
Die Ausstellung im Bank Austria Kunstforum in Wien veranschaulicht die Entwicklung des Künstlers vom Spätimpressionisten zum Symbolisten und Synthetisten und zu einer neuen, weit ins 20. Jahrhundert weisenden Bildsprache. Unerwartet (unexpected) ist dabei die Qualität und Reichhaltigkeit nicht nur der Gemälde, sondern vor allem auch der grafischen Zyklen und Skulpturen. An ihnen lässt sich der Wandel von der akademischen Auffassung zu einem davon gelösten, freien und unkonventionellen Umgang mit der Form und das Oszillieren zwischen Kulturen und Traditionen exemplarisch festmachen.
Gauguins künstlerische Karriere beginnt im Kreise der Impressionisten. Bis in die 1880er-Jahre malt er wie sie die Veränderlichkeit der Natur und idyllische, genreartige Familienbilder. Immer jedoch fehlt seiner Malerei die Leichtigkeit und Flüchtigkeit, die die Bilder seiner Zeitgenossen auszeichnet. Sehr bald geht Gauguins künstlerisches Interesse über die Malerei hinaus, er arbeitet in der Skulptur – in verschiedenen Medien wie Keramik und Holz – und unterschiedlichen grafischen Techniken.
Nach der Entscheidung gegen einen bürgerlichen Lebenswandel und für eine reine Künstler-Karriere zu Beginn der 1880er-Jahre sucht er den Rückzug von der Großstadt und der Zivilisation, erstmals 1886 in die Bretagne, dann 1887 auf die Insel Martinique – eine französische Kolonie. Dort ist er vom Licht der Tropen und der einfachen Lebensweise gefangen. In seinem Formenvokabular bleibt er aber noch dem Spätimpressionismus verhaftet.
Bei seinem zweiten Bretagne-Aufenthalt 1888 verändert sich Gauguins Auffassung vom Bild an sich: Er malt vorrangig nicht mehr nach der Natur, sondern aus der Erinnerung, aus der inneren Vorstellung. Gleichzeitig verdichtet sich seine Formensprache und die Farben legen sich wie ein Muster über die Bildfläche. Für die Grafik bedeutet das eine konzentrierte Projektion der Komposition in die Fläche – so von Gauguin in der „Suite Volpini“ beispielhaft vorgeführt. Gauguin verkehrt nun zusehends mit symbolistischen Literaten wie Stéphane Mallarmé. Sie sehen in seinen von Visionen geprägten und unterschiedliche Realitätsebenen zusammenführenden Bildern eine malerische Entsprechung ihrer Dichtkunst und feiern ihn derart als Begründer der Symbolistischen und Synthetistischen Malerei.
Als Gauguin 1891 erstmals nach Tahiti aufbricht, ist seine Formensprache gefestigt, sind seine Freundschaften und Orientierungen neu ausgerichtet – jetzt wird eine aufsehenerregende Farbwelt in seine Bilder einziehen. Aus einer mitgeführten Sammlung an Fotografien von Kunst aus aller Welt schöpft er Anregungen, schafft neue Bilderwelten, die die abendländische oder auch fernöstliche Tradition in Ikonografie und Bildsprache mit der Kultur Französisch-Polynesiens verbinden.
Geldnöte und Krankheiten erschweren das Leben in den Tropen. Um sich und seine Malerei in Erinnerung zu rufen und seine tahitianischen Werke vorzustellen, kehrt er nach Frankreich zurück. Doch nicht einmal der in Paris entstandene, teils fiktive Text über die Kultur Französisch-Polynesiens, „Noa Noa“, und die außergewöhnlichen – abendländische Traditionen mit der Holzschnitzkunst indigener Völker verbindenden – Illustrationen dazu, die „Suite Noa Noa“, können dem französischen Publikum das Fremdartige seiner Bilder erschließen.
Vor die Wahl zwischen „den Wilden hier oder dort“ gestellt, wie er sagt, entscheidet er sich für eine Rückkehr in den Südpazifik. 1895 verlässt Gauguin Frankreich für immer. Zurück in Tahiti sieht er, wie die Kolonialisierung immer weiter fortschreitet – 1901 wird er sich auf die noch entlegeneren, aber ebenfalls zu Französisch-Polynesien gehörenden Marquesas-Inseln zurückziehen, wo er 1903 auch stirbt. Seinen Bilderkosmos entwickelt Gauguin weiterhin als Hybrid zwischen abendländischer Tradition, seinen eigenen Bildfindungen und neuen Impulsen aus der marquesanischen Kultur.
Gauguin war zweifellos eine ambivalente Persönlichkeit: Er verfolgte zielstrebig und selbstzentriert seine künstlerische Karriere, nahm dazu Entbehrungen und Rückschläge in Kauf, auch Brüche mit seiner Familie und seinen Kollegen. Er genoss die Annehmlichkeiten der französisch geprägten und beherrschten Kolonie Französisch-Polynesien und interessierte und engagierte sich jedoch gleichermaßen für deren Kultur und Traditionen.
Heute müssen wir der Figur Gauguin vor dem Hintergrund unseres Verständnisses von Exotik, Kolonialismus, Missbrauch Minderjähriger und kultureller Aneignung begegnen. Seiner Zeit entsprechend hatte Gauguin zwangsläufig eine eurozentrische und paternalistische Sicht auf andere Kulturen; er idealisierte und stereotypisierte diese.
Die Ausstellung im Kunstforum will kein abschließendes Urteil über den Menschen Gauguin fällen. Im Mittelpunkt der Schau steht seine künstlerische Entwicklung zu einer neuen Auffassung des Bildes zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gauguins Œuvre in seiner Vielfalt, in seinem hohen Abstraktionsgehalt und den unglaublichen Farbwelten ist für Generationen nachfolgender Künstler und Künstlerinnen wegweisend und inspirierend und fasziniert uns noch heute.
Gauguin – unexpected
3. Oktober 2024 – 19. Jänner 2025
Kuratorin: Evelyn Benesch